Eine handwerkslegende aus dem GNM

Wiedereröffnung der handwerks- und medizingeschichtlichen Sammlung

von Verena Suchy - 7.10.2022

Nürnberg - Wer hat die erste Laufmaschine, die Urahnin des heutigen Fahrrads, wirklich erfunden? Ein angeblich 1760 von dem Stellmacher Michael Kassler erfundenes Fortbewegungsmittel stellt bisherige Annahmen der Fahrradgeschichte in Frage. Ab Donnerstag, 27. Oktober 2022 ist das Laufrad erstmals in der neu eröffnenden Dauerausstellung zur Handwerks- und Medizingeschichte zu sehen.

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Wer hat die erste Laufmaschine, die Urahnin des heutigen Fahrrads, wirklich erfunden? Ein angeblich 1760 von dem Stellmacher Michael Kassler erfundenes Fortbewegungsmittel stellt bisherige Annahmen der Fahrradgeschichte in Frage.

Zangen und Hobel, Amputationssägen, ein Hebammenkoffer und zu ihrer Zeit hochmoderne technische Geräte: Rund 700 Exponate erzählen in dem neu konzipierten Bereich der Dauerausstellung von der langen Tradition des Handwerks und der Medizin. Zu ihnen gehört auch ein besonderes Exponat, ein Laufrad.

Die Laufmaschine, die der badische Erfinder Freiherr Karl von Drais 1817 der Öffentlichkeit präsentierte, gilt als Vorläuferin des Fahrrads. Doch ein Objekt aus dem Germanischen Nationalmuseum wirft die Frage auf, ob die Geschichte des Fahrrads neu geschrieben werden muss. Die Rede ist von einem hölzernen Laufrad, das ähnlich aussieht und funktioniert wie die Draisine, aber angeblich bereits um 1760 gebaut wurde.

Der Böttger und Stellmacher Michael Kassler (1733–1772) aus der Nähe von Merseburg soll es konstruiert haben, um pünktlich zur Arbeit erscheinen zu können. Drais kann das Gerät übrigens nicht gekannt haben. Er hat lediglich das Rad neu erfunden.

Die Erzählung von der Laufmaschine Michael Kasslers hat alles, was eine Handwerkslegende braucht: Sie erzählt von der Innovationskraft des traditionellen Handwerks und von einem anwendungsorientierten Erfindergeist, der auf praktischen Erfahrungswerten beruht. Außerdem bringt sie Kassler, den Underdog aus dem Handwerk, gegen den adligen, akademisch gebildeten Drais in Stellung. Während Drais die Laufmaschine als Kuriosum und Freizeitvergnügen für gehobene Schichten erfand, ist die Urahnin des Fahrrads hier ein zwar ingeniöses, aber vor allem nützliches Arbeits- und Fortbewegungsgerät für alle Menschen.

Doch die Frage muss gestellt werden: Ist das Laufrad aus dem GNM wirklich so alt? Einer breiten Öffentlichkeit wurde es erst 1903 bekannt. Ins 18. Jahrhundert wird es hauptsächlich aufgrund von eidesstatt-lichen Aussagen älterer Einwohner*innen aus Braunsdorf datiert. So bezeugte Christiane Lützkendorf, dass ihr verstorbener Mann „als junger Bursche der Curiosität halber das betreffende Fahrrad als Vorreiter beim Pfingstbier benutzt habe, und dass man damals (ums Jahr 1836) schon gesagt habe, das Rad sei sehr alt“. Quellen aus der Zeit um 1760 sind noch nicht gefunden und auch Konstruktion und Material des Rads ermöglichen keine eindeutige Datierung. Immerhin: Die Bauweise stellt eine geschickte Kombination verschiedener, im 18. Jahrhundert bekannter Techniken dar, die einem Stellmacher geläufig sein mussten. Die Lenkerkonstruktion beispielsweise wurde von zeitgenössischen Pferdefuhrwerken übernommen.

Die Frage, wer nun wirklich der erste Erfinder des Laufrads war, muss also bis auf Weiteres unbeantwortet bleiben. Wer sich persönlich ein Bild machen möchte, kann ab Donnerstag, 27. Oktober 2022 die Kasslersche Laufmaschine in der neuen Dauerausstellung zur Handwerks- und Medizingeschichte ansehen.

Pelikan, 17./18. Jahrhundert: Ein großer Fortschritt für die Zahnmedizin war die Erfindung des Pelikans. Dank Haken und halbmondförmigem Widerlager konnte der kranke Zahn herausgehebelt werden. © Georg Janssen

Apothekenzeichen mit Einhorn, um 1750: Dem Horn wurden heilende Kräfte zugesprochen. Nicht selten boten Apotheken früher Einhornpulver als Arznei an. © Georg Janssen

Die Schraubflasche in Form eines Stiers gehörte einst einer Metzgerzunft und ist aus der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts. © Monika Runge

Die Armprothese aus Eisenblech von 1716 zeugt von Erfindergeist und Fortschrittswille: Ellbogen, Handgelenk und Fingerglieder sind beweglich und einzeln feststellbar. © GNM, Florian Kutzer

Germanisches Nationalmuseum
Kartäusergasse 1
90402 Nürnberg
Öffnungszeiten: Di – So 10 – 18 Uhr, Mi 10 – 20.30 Uhr
Telefon: 0911 13 31-0
www.gnm.de

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