„Stein auf Stein entsteht eine Mauer“, sagt eine der Protagonistinnen in In grazia di Dio, dem bezaubernden Film von Edoardo Winspeare. Und dieser Satz könnte auch der Slogan von Cinema Italia 2014 sein. Denn das diesjährige Festival zeigt Filme, die  auf ganz unterschiedliche Weise wichtige Themen unseres Alltags behandeln (Wohnen, Arbeit, Jugend, Wirtschaftskrise, sogar die Sterbehilfe) ohne dabei Lösungsmöglichkeiten (die es augenscheinlich nicht gibt) anzubieten. Stattdessen erzählen sie ganz einfach das Leben von Menschen, die sich trotz allem noch nicht damit abgefunden haben und weiter kämpfen.

Die Protagonistinnen in In grazia di Dio sind vier Frauen verschiedenen Alters, Mitglieder der gleichen Familie. Nachdem ihr kleiner Handwerksbetrieb in den Ruin getrieben wurde, müssen sie sich eine neue Existenz aufbauen und kehren in ihr altes Haus auf dem Land zurück. Es ist eine Rückkehr zur Einfachheit, ja zum Tauschhandel: Ware gegen Ware, Hilfe als Gegenleistung für Hilfe. Es entstehen ein ganz neues Solidaritätsgefühl, Aufmerksamkeit den anderen gegenüber, Austausch und Nähe. Alles schien verloren, aber ganz im Gegenteil kann alles – „Stein auf Stein“ – neu beginnen.

Der Protagonist in Gianni Amelios L’intrepido ist ein Mann mittleren Alters. Er ist arbeitslos, seine Frau hat ihn verlassen und er lebt allein. Aber anstatt sich dem Pessimismus und der Passivität hinzugeben, bemüht er sich jeden Tag um neue Lösungen: wenn es keine Arbeit gibt, dann erfindet er sie eben. Zum Beispiel, indem er diejenigen ersetzt, die ihre Arbeitsstelle für eine Weile verlassen müssen, und sei es auch nur für wenige Stunden. Er ist bescheiden, auf den ersten Blick wirkt er schwach, aber er schlägt sich mit Optimismus und dem Mut eines modernen Charlie Chaplin durchs Leben. Am Ende des Films sehen wir ihn als „seitenverkehrten“ Migranten: als Italiener geht er in Albanien auf Arbeitssuche. Denn die Uhr der Geschichte dreht sich weiter und die Länder, die einst zu den ärmeren gehörten, erleben heute einen neuen Aufschwung.

Um junge Leute geht es auch in Spaghetti Story, dem Erstlingswerk von Ciro De Caro, einer der größten filmischen Überraschungen der letzten Saison. Ein Low-Budget-Film wie er im Buche steht (15.000 Euro Gesamtkosten und 11 Drehtage), dem es mit Effizienz und Authentizität gelingt, die schon seit langem sozial problematische Situation der jungen Generation darzustellen. Die Figuren des Films sind alle um die Dreißig und das Erschreckende sind nicht etwa ihre Apathie oder ihr Zynismus, sondern die Tatsache, dass sie keine Perspektiven haben. Ihre einzige Ressource ist ihre Lebenslust, die der Film mit Zuneigung und Humor in den Mittelpunkt rückt.

In Rolando Ravellos Erstlingswerk Tutti contro tutti geht es um Armut und Verzweiflung. Die Protagonisten leben in einem Viertel am äußersten Stadtrand, wo sie in bescheidenen Verhältnissen wohnen und arbeiten. Aber sie sind der Gewalt derjenigen ausgesetzt, die noch ärmer sind als sie selbst. Der Kampf unter den Ärmsten der Armen ist die letzte Auswirkung der Wirtschaftskrise und der Ideologien. Eine Sozialkomödie voll bitter-grotesker Heiterkeit. Bei Tutti contro tutti muss man lachen (und nachdenken), ob man will oder nicht.

Die Figuren in Sacro Gra (Gewinner des Goldenen Löwen in Venedig) von Gianfranco Rosi scheinen dagegen fast schon aus eigener Wahl ausgeschlossen und isoliert zu sein. Diese Männer und Frauen leben direkt an Roms großem Autobahnring, auf dem der Autoverkehr täglich 24 Stunden um die Stadt rast. In ihrer Gesamtheit aber formen sie mit ihren Geschichten, ihren Manien, kleinen Wünschen und vorgezeichneten Schicksalen einen vielschichtigen Ausschnitt der Gesellschaft, mit dem man sich auseinandersetzen sollte. Es ist eine Momentaufnahme, der kurze Ausdruck eines ebenso konkreten wie imaginären Nicht-Orts. Eine magische Aufhebung der Zeit, während nur wenige Meter entfernt der Verkehrsfluss unaufhörlich vorbeirauscht.

Die sowohl überraschendste als auch extremste Figur aber ist sicher die junge Darstellerin von Miele, dem Erstlingswerk der italienischen Schauspielerin Valeria Golino, die mit diesem Film ihr erfolgreiches Regiedebüt gibt. Die Protagonistin der Geschichte hat in der Sterbehilfe einen sinnvollen Inhalt für ihr Leben und ein riskantes Auskommen gefunden: sie tötet nicht, sie hilft Menschen beim Sterben, deren Tage gezählt sind und die das schmerzhafte Warten verkürzen wollen. Auf ihre Weise hat Miele ihre ethische Position gefunden und glaubt, einer moralischen Verantwortung zu gehorchen. In Wahrheit bewegt sie sich in Grenzbereichen, in Unklarheit, an der Grenze des Schmerzes, und es erfordert nicht viel, um sie in eine Krise zu stürzen. Die junge Frau scheint unsensibel, kühl und gefühlsarm zu sein, in Wahrheit aber ist sie selbst verletzt und fügt sich noch mehr Verletzungen zu. Denn der Tod umgibt sie ständig, obwohl sie eigentlich voller Lebenslust ist, wie auch das bezaubernd-magische Finale zeigt, das in einer Istanbuler Moschee gedreht wurde.

Leichtgängige Komödien und Dramen, amüsante Töne und erbarmungslose Reflexion: das vereinende Element der Filme von Cinema Italia 2014 ist die Entscheidung,  sich vor allem mit der Realität  auseinanderzusetzen. So ist Sacro Gra ein Dokumentarfilm, der die Abbildung einer bestimmten Lebenssituation als Projekt verfolgt, aber interessanterweise scheinen auch die anderen Filme vor allem darauf abzuzielen, bestimmte Situationen und Probleme (soziale, moralische, wirtschaftliche) möglichst objektiv darzustellen und dabei die traditionellen Erzählmuster außer Acht zu lassen. Die Bauern in In grazia di Dio, der Stundenlöhner in L’intrepido, die beunruhigten jungen Leute in Spaghetti Story und die kämpfenden Arbeiter in Tutti contro tutti, sie alle setzen auf ihre Weise „Stein auf Stein“ und repräsentieren ein Kino, das sich angesichts der Komplexität unserer Zeit dazu entschließt, die Dinge so zu zeigen wie sie eben sind: mit all ihrer Härte, ihren Unklarheiten und Widersprüchen. Ein Kino, das nicht versucht, etwas tröstend zu vereinfachen oder die Erwartung eines „Happy End“ zu erfüllen.

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Cinema! Italia! 2014

L'Intrepido

Do / 20.11.2014 / 19:15 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

Tutti Contro Tutti

Fr / 21.11.2014 / 17:00 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

Spaghetti Story

Fr / 21.11.2014 / 19:15 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

Sacro Gra

Sa / 22.11.2014 / 17:00 Uhr
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Sacro Gra

So / 23.11.2014 / 11:00 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

Tutti Contro Tutti

So / 23.11.2014 / 11:30 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

In Grazia di Dio

So / 23.11.2014 / 17:00 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

Miele

Mo / 24.11.2014 / 19:15 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

L'Intrepido

Di / 25.11.2014 / 19:15 Uhr
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Spaghetti Story

Di / 25.11.2014 / 21:15 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

Miele

Mi / 26.11.2014 / 19:15 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

In Grazia di Dio

Mi / 26.11.2014 / 21:15 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

La terra - Der Besitz
Publikumspreisträger Cinema! Italia! 2007

Mo / 08.06.2015 / 19:00 Uhr
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Cinema! Italia! 2014

La terra - Der Besitz
Publikumspreisträger Cinema! Italia! 2007

Di / 09.06.2015 / 19:00 Uhr
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La terra - Der Besitz
Publikumspreisträger Cinema! Italia! 2007

Mi / 10.06.2015 / 19:00 Uhr