„King Vidor gehörte jener ersten Generation von Filmbegeisterten an, die schon wie selbstverständlich mit den bewegten Bildern aufwuchs, jener Generation, für die das Kino noch neu und zugleich schon ganz eigene Gegenwart war. Am 8. Februar 1894 in Galveston, Texas, erlebte er als Heranwachsender mit, wie sich das Potenzial des Films rapide erweiterte; er sah aus Aktualitätenprogrammen abendfüllende Werke entstehen, aus der spontanen Lust an der Bewegungsreproduktion mit kleinen Sketchen und Geschichten regelrechte Epen sich herausbilden. Wie andere Cineasten seines Alters entschloss er sich, Film zu seinem Metier zu machen – als Autodidakt, anders ging es damals nicht. Noch keine 20 Jahre war Vidor alt, als er seine ersten Filme drehte, er lieferte Bilder für Wochenschauen und realisierte kurze Spielfilme als Auftragsproduktionen.

Zwischen 1919 und 1959 hat King Vidor 54 Spielfilme gedreht. Zählt man die dokumentarischen Arbeiten und kurzen Zweiakter mit, die ab 1913 entstanden, und die beiden essayistischen Filme, die er 1964 und 1980 realisierte, kommt man auf 67 Jahre aktiver Filmarbeit – ein Leben für den Film.

King Vidor war ein innovativer Regisseur, der sich über die Jahrzehnte stets mit großem Interesse auch den aktuellen filmtechnischen Entwicklungen stellte. Im Tonfilm setzte er bereits mit seinem ersten Versuch, HALLELUJAH (1929), Maßstäbe. Vidor drehte häufig ‚on location‘, er ließ sich von der sowjetischen Montagekunst ebenso beeinflussen wie von der beweglichen Kamera des Teams Murnau/Freund, ab 1939 nutzte er den neuen Dreistreifen-Technicolorfilm.

Auch erzählerisch schlug er neue Wege ein: Mit THE BIG PARADE (1925) erfand er eine narrative Struktur, die fortan etliche vor allem pazifistische Filme über den Ersten Weltkrieg prägte; sie konzentriert sich auf eine Gruppe von Soldaten an der Front und verzichtet auf einen herausgehobenen heroischen Protagonisten.

Immer wieder untersucht Vidor in seinen Filmen die Verhältnisse der Geschlechter. Selten verkörpern seine männlichen Figuren das stärkere Geschlecht, vielmehr fallen die dominanten weiblichen Charaktere auf: ob aufopfernd wie Stella Dallas (Barbara Stanwyck) in dem gleichnamigen Film, kalt kalkulierend wie Rosa Moline (Bette Davis) in BEYOND THE FOREST (1949) oder ihre Rache zelebrierend wie Ruby Gentry (Jennifer Jones) in dem Melodram gleichen Titels, die als wohlhabendste Frau der Stadt keine früher erlittene Kränkung vergessen hat. Wenn sich aber – vor allem in Vidors Melodramen – zwei Menschen treffen, die einander auf Augenhöhe lieben könnten, dann bleibt ihnen das versagt, weil sie schon anderweitig gebunden sind.

Ein wiederkehrendes Thema in Vidors Œuvre ist die Bedeutung der amerikanischen Klassenverhältnisse und der unsichtbaren, gleichwohl unüberschreitbaren Grenzen, die sie darstellen – man lässt Ruby spüren, dass sie aufgrund ihrer Herkunft nichts in den sogenannten besseren Kreisen verloren hat. Vidor variiert dieses Thema in vielen seiner Filme. Auch der alltägliche Rassismus in den USA während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts spiegelt sich in King Vidors Werk.

King Vidor war ein Regisseur, der stets vom Thema her dachte, der nicht im Vorhinein eine bestimmte Haltung gegenüber dem Stoff definierte, sondern von diesem ausgehend einen entsprechenden Stil suchte und umsetzte. Dieses Vorgehen zeugt von seiner großen Experimentierfreude und zugleich von seiner Abneigung gegen Schablonen. Wie viele seiner fast gleichaltrigen Kollegen ergründete er die unterschiedlichsten Genres – Western, Melodramen, Kostümfilme, Komödien, am Ende realisierte er noch einen Antikfilm. Dabei erwies er sich als Profi, der die Filme auf seine ganz eigene Weise prägte, ohne dabei die Stoffe in immer gleicher Weise anzugehen. Auch aus diesem Grund ist King Vidor eine Entdeckung. Die filmhistorische Beschäftigung mit ihm kennt kaum Kontinuität, ist eher auf Ausnahmen beschränkt. Zwar wurden Titel wie THE BIG PARADE, THE CROWD, STELLA DALLAS oder DUELL IN DER SONNE zu Klassikern, die neue Lesarten und Verortungen herausforderten. Ihr Regisseur jedoch wurde nicht annähernd in dem Maße bekannt wie seine Werke.“ Connie Betz, Karin Herbst-Meßlinger, Rainer Rother

Die Retrospektive findet statt in Zusammenarbeit mit Internationale Filmfestspiele Berlin, Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen und wird am 11.9. mit einem einführenden Vortrag von Winfried Günther (DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum e.V., Frankfurt/Main) über King Vidors Werk eröffnet.

Wir danken Johanna von Fehrn-Stender (Warner Bros.) und insbesondere Connie Betz, der Programmkoordination der Retrospektive der Berlinale. Die Kurztexte zu den Filmen entstammen weitgehend der Berlinale-Programmbroschüre und wurden von Jörg Schöning verfasst.

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Volker Panthenburg über TRUTH AND ILLUSION: „Der Film ist die bebilderte philosophische Grundsatzerklärung eines 70-jährigen Filmemachers, ein idealistisches Credo, das den Bogen von Platon über Berkeley hin zu Albert Einstein und der Bewegungsillusion des Kinos spannt.“ Der ganze Text: hier weiterlesen

Berlinale-Programmdirektor Carlo Chatrian über King Vidor: hier weiterlesen

Das Criterion Forum Filmmakers: hier weiterlesen

Ein Essay in Senses of Cinema:  hier weiterlesen

Der Nachruf der New York Times zu Vidors Tod:  hier weiterlesen