23.9. bis 26.9.2021

Die im Kunstbunker Nürnberg (15.10.–22.11.2020) stattgefundene und pandemiebedingt unterbrochene Ausstellung unwahrnehmbar-werden stellte mit der belgischen Filmemacherin Chantal Akerman (1950–2015) und dem rumänischen Künstler Ion Grigorescu (*1945) zwei herausragende Künstlerpositionen gegenüber. Aus ihrem vielfältigen Schaffen, das in sehr unterschiedlichen künstlerischen und politischen Kontexten entstand, kristallisiert sich ein Themenkomplex heraus, in dem sich Familiengeschichte, Rituale des Alltags und intime Obsessionen mit Fragen über Exil, Identität undGedächtnis und das Dokumentarische mit der Autofiktion verquicken. Beide Künstler entwerfen und verdichten in ihren Werken Sprachen des Alltags, wodurch sie zum einen zur wachsenden Bedeutung dieser Thematik in den Diskursen und Kunstformen ab den 1960er und 1970er Jahren ihre einzigartigen Beiträge leisteten. Zum anderen offenbaren sie eine sie auszeichnende und verbindende politisch und spirituell motivierte Empathie für das zerbrechlich Menschliche, das sich im augenscheinlich Unbedeutenden und Marginalen widerspiegelt.

Als sie mit 25 Jahren mit ihrem wegweisenden JEANNE DIELMAN, 23 QUAI DU COMMERCE, 1080 BRUXELLES (1975) weltbekannt wurde, hatte Chantal Akerman bereits sechs Filme geschrieben, gedreht, produziert und teilweise auch als Darstellerin in Szene gesetzt. Es folgten zahlreiche weitere Filme und ab den Neunzigern Videoinstallationen, die zwar ein breites Band an Formaten und Genres durchqueren, bezeichnenderweise jedoch stets ihre einzigartige Vision des Kinos als körperliches Zeiterlebnis an das Publikum nahebringen. Besonders eindrücklich sind Akermans Porträts weiblichen Begehrens, die sie in sparsamer Formensprache aber nicht ohne Humor im Spannungsfeld von Innen- und Außenräumen inszeniert. Als Tochter einer jüdisch-polnischen Mutter, die dem Holocaust entkam, beschäftigte sich Akerman in ihrem gesamten Schaffen, so auch in ihrem letzten Film NO HOME MOVIE (2015), immer wieder mit der Figur der Mutter und ihrer Familiengeschichte, die sie im kollektiven Schicksal der osteuropäischen Juden einschreibt. Akermans Essayfilme wie LÀ-BAS (2006), der tragikomische GESCHICHTEN AUS AMERIKA (1989) und Dokumentarfilme wie DE L‘AUTRE CÔTÉ (2002) und SÜDEN (1999), die teils im Kunstbunker vorgeführt wurden, teils im Filmhaus Nürnberg nachgeholt werden, binden persönliche Schicksale in historische Geschehen ein und erzählen von den katastrophalen Folgen von Hass, Vertreibung und Krieg.

Auch in Ion Grigorescus Werk bildet die Verschmelzung des Dokumentarischen mit der Autofiktion seit über sechs Jahrzehnten eine formale wie inhaltliche Konstante vor der Folie politischer und sozialer Umstände (kommunistische Diktatur, der stotternde Übergang des Landes in die Demokratie, zerstörte urbane Landschaften, materielle Armut vs. moralische Verkommenheit). Aus einer ambivalenten, stets hinterfragenden Position heraus entwickelt Grigorescu seine konzeptuelle und performative Praxis und die intime, improvisierte und provokative Qualität seines filmischen, fotografischen und malerischen Werkes. Mit äußerst bescheidenentechnischen Mitteln schuf Grigorescu seit Ende der sechziger Jahre, neben einem sehr umfangreichen fotografischen Werk, experimentelle Kurzfilme, die er erst nach dem Regimewechsel Ende 1989 in nationalen und internationalenKunstausstellungen präsentieren konnte. Seine Selbstporträts entwerfen ein modifiziertes, sich in Bewegung befindendes Bild der Männlichkeit, das Geschlechterrollen in Frage stellt und überschreitet: so wenn er sich in den Akt des Gebärens hineinversetzt oder tägliche Hausarbeiten zugleich als Ritual der Selbstfindung, Überlebensmechanismus und gesellschaftlichen Kommentar in seine künstlerische Praxis integriert.

Mihaela Chiriac

Filmprogramm im Rahmen der unterbrochenen Ausstellung „unwahrnehmbar-werden / becoming-imperceptible. Chantal Akerman, Ion Grigorescu“, kuratiert von Mihaela Chiriac im kunstbunker – forum für zeitgenössische kunst e.V.

Besonderer Dank gilt: CINEMATEK - Royal Film Archive of Belgium; Fondation Chantal Akerman; Gregor Podnar, Berlin; The Party Film Sales.