Essays zu soft focus (2022)

Urs Humpenöder

Vom uneigenen Körper und einem Dauerlutscher

Sie knetet die zwei Brüste, als wäre der eigene Körper fremd, ein Spielzeug nur, ein Witz. Als wäre er da, um damit zu spielen, um wieder Kind zu sein, diesmal nicht im Sandkasten sitzen, sondern auf der Bühne stehen. Währenddessen wird sie angeschaut und die Blicke sind ratlos, schweifen ab, fragen sich, was das soll, was sie da macht, die Frau. Knetet die Brüste, legt die eine über die andere drüber, verwindet sich in sich selbst.

Auf den Fotos sahen die Mädchen doch so schön aus, so zart, so unschuldig. Es war, als wäre die Welt noch in Ordnung. Auf den Fotos sahen die Mädchen noch so aus, als wäre ihre Kleidung – das bisschen zumindest, was sie anhatten – mit Weichspüler gewaschen und würde nach Geborgenheit riechen. Auf den Fotos sahen die Mädchen noch so aus, als würden ihre Brüste niemals so groß und hängend werden, dass man aus ihnen Knetmasse machen könnte, waren sie doch klein, spitz, straff, diese Brüste, diese Mädchen.

Weiter knetet die Frau. Und je länger sie knetet, desto klarer wird es: Es ist ihr eigener Körper, den sie da verarbeitet. Ein gewachsener Körper, der dem Fotografen nicht mehr gefällt. Der Fotograf will nur die jungen Körper, die kaum Spuren zeigen, die weich sind und glatt. Uneigene Körper. Der hier, der Körper knetet sich selbst, zurück in die Kindheit, in vorgeschlechtliche Zeiten. Die Entdeckung des eigenen Körpers ist das größere Wunder. Die Wiederaneignung vielleicht das noch größere. Die Kamera des Fotografen ist ein blinder Fleck, der diesen Körper nicht mehr sehen, nicht mehr abbilden kann.

Die Frau nimmt jetzt einen Lolli in den Mund und beginnt, ihn zu lutschen. Einen Dauerlutscher, Chupa Chups, Neunzehnhundertneunzig, leck mich. Und sie leckt ihn, den Lolli, lutscht ihn, als gäbe es kein Morgen. Schneller, immer schneller, und am Anfang hauen sich alle auf die Stirn und denken, dass das Bild doch viel zu einfach sei. So plump wie die Fotografien junger Mädchen in rosa Slips. So weichgezeichnet, dass man beim Anschauen schon unerträgliche Sonntagsgefühle bekommt: Unendliche Zähigkeit der Zeit, nichts passiert, Kuchen und Kaffee bis zum Abwinken, die schwere Süße ändert sich schon beim ersten Biss in Abscheu, wegwollen aus dem Immergleichen, zu viel Schlagsahne im Bauch. Die Frau lutscht den Lolli und hört nicht auf. Schmatzgeräusche, immer lauter, immer mehr. Die Absurdität steigert sich mit jeder Umdrehung der Zunge. Kein Blowjob mehr im Kopf, weil das Bild nicht mehr funktioniert. Der Dauerlutscher schlägt gegen die Zähne, oben, unten, geschlossener Mund, offener Mund, noch schneller. Die Frau hört nicht auf.

Im Fernsehen spricht die Frau zusammen mit der anderen über die Fotografien von früher. Das Stück ist schon vorbei, deshalb erzählen sie jetzt von dessen Entstehung. Die Frau hält ein Buch in der Hand und blättert die Seiten um. Auf einem der Fotos stehen Mädchen in hellblauen Kleidern herum, gleich geht die Ballettstunde los. Der Fotograf ist schon da und gibt Anweisungen.

Drei der Mädchen haben vergessen, sich ihre Kleider anzuziehen und sind aus Versehen nackt. Die Vorfreude auf die Tanzstunde ist groß. Eine hilft der anderen beim Zopfmachen. Neunzehnhundertneunundsiebzig. Vielleicht dürfen sie nach dem Foto einen Lutscher haben. Vielleicht gönnen sie sich das. Vielleicht verteilt der Fotograf welche. Es ist alles gut. Es ist alles schön. Der Tanz fängt für immer an, nie stattzufinden.

Und die Frau schmettert sich den Dauerlutscher durch die Mundhöhle. Und irgendwann ist es vorbei, einen kurzen Moment der Stille. Der Lutscher vorbei, abgelutscht, ausgelutscht, nicht von Dauer. Nichts mehr süß daran, nichts mehr süß an den Fotos von den Mädchen. Hier steht die Frau, schaut hoch, und die andere Frau reißt sie mit sich und sie fangen an zu tanzen, endlich. Sie jagen sich durch den Raum, drehen sich, hüpfen, lachen. Sie lösen alle Bilder auf, die wir von ihnen hatten. Sie machen alles kaputt, was wir dachten, sie zerstören die Fotografien, ohne sie zu zerreißen. Schaut mal, es ist alles ganz anders, sagen sie nicht. Sie zeigen nur: Körper, Bewegung, Geräusche. Die Frauen bleiben stehen. Die Brüste aus der Verdrehung befreit, die Perücken von den Köpfen gerissen. Die pastellfarbenen Vorhänge hinter ihnen wiegen sich noch sanft nach dem Sturm, den die beiden veranstaltet haben.

Don't go wasting your emotion, lay all your love on me, don't go sharing your devotion, lay all your love on me, singen ABBA jetzt, und sie versuchen, noch einmal Hoffnung zu verbreiten, dass es möglich ist: dass die Vergangenheit niemals endet. Sie wollen die Fotografien ins Jetzt ziehen, die eigene Musik retten, die Idee nicht vom Guten, Wahren und Schönen, sondern vom Weichen, Warmem und Schönen. Die Frauen lachen darüber. Sie umarmen sich. Sich drücken ihre Brüste aneinander. Die uneigenen Körper sind vorbei. Hier sind wir, sagen sie. Leck mich.