Mehr als nur Paarprobleme - Stückbesprechung zu "Der Abbruch" von Andrea Hintermaier

Text: Dennis Dreher

Haben Sie keine Angst: Hier werden keine Phrasen gedroschen und keine Urteile gefällt: Andrea Hintermaier nimmt die Frage nach dem Schwangerschaftsabbruch ernst und macht uns klar, warum sie nicht nur Paare betrifft, die sich für oder gegen ein Kind entscheiden müssen. Im Zuge dessen lädt sie ihr Publikum zu einem therapeutisch heilsamen Abend ein.

Lena Stangenberger (Johanna Steinhauser) ist nicht durch eine Vergewaltigung schwanger geworden. Sie hat auch keine unzumutbaren Lebensverhältnisse: Sie ist verheiratet mit einem kinderlieben Mann (gespielt von Robert Oschatz), hat bereits eine Tochter, die Familie kann sich theoretisch auch ein zweites Kind leisten – und doch merkt man es gleich, als die Ärztin (dargestellt von Tausendsassa Maria Mund) es ihr eröffnet: ein Zweites hätte sie lieber nicht. Als sie ihrem Mann davon berichtet, reagiert er so perfekt, wie man es sich in einem romantischen Film oft nur erträumt: er umarmt seine Frau, freut sich, plant schon mit ihr, wie das Kind heißen könnte – ein Überschwang, den ihm Lena vergällt. Wie unfair.

Sebastian Förster, Lenas Mann, ist wohl das, was man heute so als den Normalfall eines guten Ehemannes verstehen darf. Er kocht, geht einkaufen, kümmert sich um die Tochter, ist feministischen Ideen gegenüber aufgeschlossen … ein bisschen hat man aber doch das Gefühl, dass es nicht er ist, der die Toilette reinigt. So zeitgemäß die Beziehung wirkt – fortschrittlich kann man sie nicht nennen. Lena jedenfalls hat einige Kritikpunkte. Am Commitment von Sebastian, aber auch an der patriarchal strukturierten Gesellschaft. Sie outet sich klar als Feministin und zieht damit schon mal eine Konfliktlinie ein. Hier könnte das Stück in eine Opfer-Täter-Rhetorik verfallen. Genau das geschieht nicht. Stattdessen bleibt es nah und wahrhaftig an seinen beiden Figuren und lädt auch das Publikum auf angenehme, wenngleich brisante Art ein, sich einzubringen.

Vielleicht der schönste Kniff ist, dass Regisseurin Andrea Hintermaier das Publikum gemeinsam mit den Figuren zur Paartherapie schickt. Ein kluger Vermittlungsversuch, der Ungleichheiten sichtbar macht ohne den Zeigefinger zu heben, Unrecht anspricht, aber auch Auswege aufzeigt. Geleitet wird dieser Versuch einer Schlichtung von Maria Mund als Therapeutin (man will fast sagen Schamanin) mit höchst unkonventionellen, dafür aber bühnenwirksamen Methoden: Ein Kampf mit Poolnudeln macht rasch deutlich, wo es bei Diskussionen zwischen Mann und Frau oft hakt. Mit Hilfe einer Kamera werden Blicke gelenkt und gespiegelt, Perspektiven sichtbar gemacht und gewechselt. Origamitiere helfen dabei Konflikte aufzuarbeiten. Und wenn schließlich die Therapeutin Lena und Joachim geistig an den Beginn ihrer Beziehung zurückführt dann wird sichtbar, wie auch sie beide vom Leben auf unterschiedliche Weise gefaltet, gebogen, geknickt wurden: Zwei quadratische Stücke Papier, die in Form eines Eichhörnchens und eines Pinguins um ihre Beziehung ringen.

„Der Abbruch“ ist ein trauriges, ein lustiges Stück, bei dem alle Teile wunderbar durchdacht ineinandergreifen, das große Themen im Kleinen bündelt und behutsam den Finger auf Wunden legt, uns an Schmerzgrenzen führt und von dort wieder zurück zu uns selbst. Zwischen den musikalischen Polen von „I don’t wanna fall in love with you” und „Das was ich will bist Du” suchen und sehnen, finden und verlieren sich Lena und Joachim und kreisen dabei ständig um die Fragen: Soll Lena das Kind (nicht) behalten? Und warum ist sie es, die darüber zu befinden hat?

Man kann die feine Darstellung der Figuren, die präzise gesetzten Dialoge und das aufrüttelnde Potential dieses Stücks kaum hoch genug loben. Johanna Steinhauser, Maria Mund und Robert Oschatz machen es einem schwer, das Theater ungerührt zu verlassen. Ganz sicher ist: Es lohnt sich, über das nachzudenken, was man da gesehen hat. 

Juni 2022