Die Filmgeschichte in den einzelnen nationalen Kinematographien verlief bisher in Wellenbewegungen. Einer guten oder sogar goldenen Ära folgt(e) eine Zeit der Mittelmäßigkeit oder Stagnation. Und umgekehrt. Der englische Film erlebte mit der British New Wave, einer Bewegung, die wie ihr französisches Pendant, die Nouvelle Vague in den späten 50er und frühen 60er Jahren das Kino revolutionierte, eine Blütezeit. Die britischen Filme zeigten sich klassenbewusst und stellten jugendliche Antihelden in den Mittelpunkt, die gegen die restriktive bürgerliche Gesellschaft aufbegehrten. Eine neue Generation von Filmemachern um Tony Richardson, Karel Reisz und Lindsay Anderson äußerte ihr Unbehagen gegenüber einem altmodischen Kino mit eingefahrenen Erzählmustern, das vorsätzlich an der Gegenwart vorbei in künstlichen Studiowelten produzierte. Sie begründeten einen neuen Realismus, den Originalschauplätzen in nördlichen Industriegebieten wie Manchester ein eigenes Gewicht verleihend. Der Einfluss der British New Wave reicht weit, sie prägte durch ihre Regisseure und Stars die Popkultur der folgenden Jahre und ist auch im späteren New British Cinema der 80er Jahre und darüber hinaus zu spüren.

Das Filmhaus präsentierte eine konzise Auswahl, die mit restaurierten Originalfassungen und Nürnberger Erstaufführungen aufwartet. Zu sehen waren preisgekrönte Klassiker wie SAMSTAGNACHT BIS SONNTAGMORGEN (1960), BITTERER HONIG (1961), DIE EINSAMKEIT DES LANGSTRECKENLÄUFERS (1962), LOCKENDER LORBEER (1963) und unbekanntere Werke wie DAS INDISKRETE ZIMMER (1962) und DIE ERSTE NACHT (1964). Als große Wiederentdeckung ist der in seiner ursprünglich konzipierten Form kaum aufgeführte Omnibusfilm RED, WHITE AND ZERO (1967) zu werten. Er verkörpert die Kreativität und Kühnheit des englischen Kinos an der Schnittstelle zwischen der New Wave und den sich anschließenden Filmen des „Swinging London“. Die Regisseure der neuen Welle wurden von einer jungen Generation der Arbeiterklasse entstammenden Schriftstellern beeinflusst, den sogenannten „Angry Young Men“. John Osborne, Alan Sillitoe, Harold Pinter, David Storey, Shelagh Delaney (die einzige Frau der „Angry“-Clique) thematisierten zur selben Zeit soziale Entfremdung und Klassenkonflikte in England. Bevor die späteren Regisseure Lindsay Anderson, Karel Reisz und Tony Richardson deren Romane und Erzählungen verfilmten, teilweise unter Mitarbeit der Autor*innen selbst, attackierten sie als Filmkritiker das behäbige und konventionelle britische Kino der 50er Jahre.
In ihren Filmen sollten sie das Empire dann von unten, gewissermaßen von der Küchenspüle aus betrachten. Darin fanden vorher selten oder nie behandelte Themen – die Freizeit und der dröge Arbeitsalltag der Jugendlichen, fehlende Entfaltungsmöglichkeiten, das Leben von Außenseitern, die Undurchlässigkeit der Klassenschranken – Eingang in die eher abfällig so genannten „Kitchen-Sink-Filme“. Sie bekundeten die Solidarität ihrer Regisseure mit dem Zorn und sozialen Protest ihrer jungen proletarischen Helden, etwa mit dem Prä-Punk Colin Smith, der gegen die bigotten Moralprinzipien und den Anpassungsdruck der Gesellschaft rebelliert. Das alles war neu und wurde neuartig inszeniert, on location mit neuen jungen Gesichtern, die später das britische Kino prägen sollten: Tom Courtenay als Colin Smith wurde in DIE EINSAMKEIT DES LANGSTRECKENLÄUFERS entdeckt, Rita Tushingham in BITTERER HONIG und Albert Finney in SAMSTAGNACHT BIS SONNTAGMORGEN. Ihre Authentizität unterstrich das Klassenbewusstsein, das die Filme der New Wave ausstrahlten.

Vorbereitet wurde der neue humanistische Blick dieser Spielfilme in den 50er Jahren durch eine Reihe von dokumentarischen Formen, die die Welt der Arbeiterklasse und die entstehende Jugendkultur in den Mittelpunkt stellten: Das von Lindsay Anderson, Karel Reisz und Tony Richardson proklamierte Free Cinema. Sie bekräftigten mit zu sechs Free-Cinema-Programmen zusammengefassten Dokumentarfilmen, die außerhalb der Filmindustrie entstanden, und einem Manifest ihren “belief in freedom, the importance of people and in the significance of the everyday.” Das Filmhaus präsentiert das erste Free-Cinema-Programm, wie es am 5. Februar 1956 im Londoner National Film Theatre zur Aufführung gelangte.

Der große Erfolg von TOM JONES (1963) und A HARD DAY’S NIGHT (1964), markierte eine Zeitenwende. Die Filme Mitte der Sechziger wurden bunter, spielerischer, überschwänglicher, respektloser und lösten die New Wave ab.

Die Kompassnadel schwang zurück in den Süden, angezogen vom Magnetfeld der Metropole London, wo eine moderne Jugend Veränderungen in der Sozial- und Genderpolitik anfachte. Das kreative Zentrum der Swinging Sixties lockte auch in den Filmen junge Protagonisten an, die der Langeweile des Provinzlebens entkommen wollten. Ken Loachs beeindruckendes Kinodebüt POOR COW (1967) erweitert das Blickfeld auf ein ärmeres London. „I dwell in the town in the grey country“ singt Donovan in seinem Titelsong. Auch die Musik in den Filmen veränderte sich, der Jazz machte einem Pop-Soundtrack Platz. Paradigmatisch hierfür steht Clive Donners selten zu sehender und die Werkschau komplettierender HERE WE GO ROUND THE MULBERRY BUSH (1968) mit der psychedelischen Musik der beiden Bands Traffic und The Spencer Davis Group.