André Studt

Kitsch als Selbsttäuschungsmanöver – Theater als selbstwirksamer Widerstand

„Kitsch ist das schlechte Gewissen der Kunst; Kitsch und Kunst sind ein Begriffspaar, das voneinander nicht loskommt.“ 

Wolfgang Braungart

 

Wieso schreibt jemand RIP DAVID HAMILTON auf eine Toilettenwand?

Ein Spaziergang im Pegnitzgrund lies mich überhaupt erst auf diese Frage kommen bzw. auf diese Inschrift an einem Nicht-Ort meiner beruflichen Tätigkeit aufmerksam werden: Eva Borrmann, seinerzeit frisch mit der dreijährigen Impuls-Förderung der Stadt Nürnberg ausgezeichnet, flanierte neben mir und schilderte dabei ihre Gedanken zum Thema ‚Kunst und Kitsch’, der konzeptionellen Klammer dieser Auszeichnung und einem für ihre mir bekannten künstlerischen Arbeiten naheliegenden Zusammenhang. Ich kannte sie als Tänzerin aus einem Stück über Madonna – No room for two Queens (2017) – wo es um die übergriffige Einflussnahme einer popkulturellen Ikone (und damit zusammenhängenden, globalen Verkitschungen) auf die vulnerablen Prozesse von Selbstentwürfen einer jungen Frau gegangen war, und lernte sie etwas später als Choreographin kennen, der es um die Untersuchung von Voraussetzungen der sozialen Modellierung von Körpern geht. So wurde bei Red Forest (2019) der Frage nachgegangen, wie das Märchenmotiv von ‚Rotkäppchen und dem bösen Wolf’ eine Rolle bei der Zuschreibung, Formatierung und Prägung von (weiblicher) Körperlichkeit - entweder in der konkreten Umsetzung (als Körper) oder der diskursiven Vorstellung (von Körpern) - spielt und als kulturelles Muster tradiert wurde. Das Eintauchen in – z.T. vergessene / verdrängte – Stoffe, die Lust am Aufspüren von dort auffindbaren Latenzen und deren abstrahierender Transfer in Tanz, wo die gefundenen Themen im Körper der Tanzenden (und Zuschauenden) konkret werden, leistet mehr als ein routiniertes Bedienen von tagesaktuellen Trends und/oder Schlagwörtern, auch wenn ihre Arbeiten wach für unsere Gegenwart machen...

Also: Wieso schreibt jemand RIP DAVID HAMILTON auf eine Toilettenwand?

Eva erzählte weiter von Kitsch/Kunst und ihrem ersten Vorhaben SOFT FOCUS: Den Ausgangspunkt sollten die Fotografien von David Hamilton bilden; dieser Fotograf wurde durch eine obsessive Nutzung des Weichzeichners (= soft focus) berühmt, sein Sujet war durch ein zweifelhaftes Faible für Kindfrauen berüchtigt. Letzteres ist mit ‚zweifelhaft‘ eher defensiv beschrieben: Nur wenige Tage nach Veröffentlichung des Buches «La consolation» (dt. der Trost), in dem die französische TV Moderatorin Flavie Flament beschrieb, wie sie als 13-Jährige von einem international bekannten (im Buch aber namentlich nicht genannten) Fotografen am Rande eines Shootings sexuell missbraucht worden war, und sich danach weitere ehemalige Modelle in gleicher Weise äußerten, weil die Andeutungen des Buches und Interview-Aussagen der Autorin nahelegten, dass es sich bei dem Fotografen um Hamilton gehandelt haben müsse, schrieb DER SPIEGEL am 26.11.2016:

Tod von Fotograf David Hamilton: Der alte Mann und die Mädchen.
Kitschige Bilder junger Mädchen machten ihn weltberühmt. Im letzten Monat erhoben nun einige seiner Modelle Vergewaltigungsvorwürfe gegen David Hamilton. Nun ist der Brite tot.

Und in DIE WELT stand einen Tag später:

Toxikologische Tests sollen endgültig Klarheit über die Todesumstände von Fotograf David Hamilton geben. Bereits jetzt zeichnet sich aber ab, dass der Künstler, der mit weichgezeichneten Aktbildern junger Frauen und Mädchen bekannt wurde, Suizid begangen hat. Der 83-Jährige starb am Freitagabend in seiner Pariser Wohnung, laut der Agentur AFP wurde er „mit einer Plastiktüte über dem Kopf“ tot aufgefunden. Im Badezimmer wurden zudem Medikamente entdeckt, außerdem konsumierte er vor seinem Tod offenbar Alkohol. Erst am Dienstag waren schwere Vorwürfe gegen den Briten geäußert worden: Einige seiner ehemaligen Models behaupteten, dass Hamilton sie als junge Mädchen sexuell missbraucht habe. Der Fotograf selbst bestritt diese Vorwürfe.

Es ist bis heute nicht abschließend geklärt, was an diesen Vorwürfen berechtigt war; mit Blick auf die posthume Zuschreibung, Produzent ‚kitschiger Bilder‘ gewesen zu sein, wäre einzuwenden, dass Hamilton seine Arbeit nicht als Kitsch bezeichnet hätte; er war, mit den Argumenten des Erziehungswissenschaftlers Roland Reichenbach, vielmehr dem Umstand einer Selbsttäuschung unterlegen, die in „den Bedürfnissen nach Behaglichkeit, schöner Stimmung, Sicherheit, Eindeutigkeit und Aufgehobensein, kurz: im Bedürfnis, der Unwirtlichkeit exzentrischer Positionalität (Plessner 1982) – des Nicht-bei-sich-Seins zu entrinnen“ (Reichenbach 2003: 777, Anm.5) gegründet ist. So ist denn auch die Aussage Vilèm Flussers, der Kitsch sei „eine Methode, angesichts der Absurdität des Menschseins gemütlich zu sterben“ (Flusser 2007: 297), weil dieser Widerspruch ausblende und ohne Ironie operiert, eine eher traurige Pointe – vielleicht auch für denjenigen, der für die Inschrift auf die Uni-Toilettenwand gesorgt hat.

Wesentlicher Impuls für die Arbeit an diesem Projekt, so Eva weiter, war der Cast: Die beiden Tänzerinnen Susanna Curtis und Alexandra Rauh wurden von ihr in einem ersten erzählerischen Zugriff zu ehemaligen Modells von Hamilton gemacht, die retrospektiv auf ihre angenommene Zusammenarbeit mit diesem Fotografen schauen würden; zum Altersunterschied meinte Eva lakonisch, sie könne die Tochter ihrer Tänzerinnen sein, die ihre ‚Mütter’ nun dazu bringe, über erfahrene Demütigungen und Traumata zu berichten, um dabei etwas über sich selbst (im Heute) herauszufinden. Diese zuerst durchgesponnene (und mittlerweile längst verworfene bzw. mit anderen Setzungen überschriebene) Phantasie, die sich in angenommener Täter-Opfer-Manier zu stark von der Perspektive Hamiltons abhängig gemacht hätte, brachte mich wieder auf die von Eva Borrmann aufgeworfenen Frage der sozialen Modellierung und Perspektivierung von Körpern – und zwar in Bezug auf mich selbst.

 

So fiel mir auf, welche Dominanz die Ästhetik Hamiltons in meiner Adoleszenz hatte; während meiner Pubertät in den 1980er Jahren waren dessen Bilder - und damit auch der male gaze bei der Modellierung einer Vorstellung von Weiblichkeit/weiblicher Geschlechtlichkeit - en vogue und stilbildend für popkulturelle Phänomene, die mein Erwachsenwerden (als Mann) flankierten. Die Protagonistin des Films Die blaue Lagune (1980), Brooke Shields, war eine Sensation für die damaligen Bravo-Leser, auch wenn die damalige Filmkritik urteilte, dass es sich um „(v)iel Weichzeichnererotik mit puritanischen Untertönen“ gehandelt hatte. Gleichzeitig tobte jemand wie Klaus Kinsky mit seinen virilen Vorträgen von Villon-Texten durch die Hallen der (alten) Bundesrepublik und feierte, rhetorisch brutal und exzessiv, eine männliche Lust, das dominante Begehren und die Promiskuität von echten Kerlen, die den weiblichen Körper als Objekt in konsumierbare Fragmente zerlegt und sich einfach einverleibt. So entstanden in sozialen, kulturellen, kommerziellen und ästhetischen Konstellationen einflussreiche und spannungsgeladene Diskurse, die (u.a. mir) beim Erlernen und der Reproduktion bestimmter Vorstellungen von Geschlechtlichkeit (und deren Auswirkung auf Andere) an die Seite gestellt wurden.

Die „Stimmungslüsternheit“ (vgl. Giesz 1971) der (kitschigen) Bilder bzw. der Ästhetik Hamiltons korrespondierte damals wohl mit dem eigenen Unvermögen, eine Haltung zum anderen Geschlecht einzunehmen bzw. sich seiner eigenen Unfertigkeit als Geschlechtswesen bewusst zu sein; als Adoleszent (und jugendlicher Voyeur) wäre es mir nie in den Sinn gekommen, die in diesen Bildformeln versteckten Gewaltpotentiale einer erwachsenen Produktion und Rezeption zu entdecken. Sie zeigen, wie Ruth Mätzler in ihren Studien zu Kitsch und Perversion herausstellt,

geradezu mustergültig die Paradigmen pädophiler Neigungen, nämlich die psychosexuelle Fixierung erwachsener Menschen auf vorpubertäre Mädchen und Jungen, deren kindliche Unschuld und Unerfahrenheit idealisiert und erotisiert werden. (…) Hamiltons Bilderwelten sind bevölkert von zarten Nymphen mit ‚knospenden Brüsten‘, die in durchsichtige Gewänder oder Ballettröcke gekleidet. Die Konturen ihrer schmalen Körper lösen sich in wabernden Nebeln auf, während die ganze Szenerie in zuckrige Pastellfarben getaucht ist. (Mätzler 2019: 182).

Auch diese Zuschreibungen sind aus unserer Gegenwart erfolgt und von Mätzler, die, wie sie (vielleicht auch in stiller Gemeinschaft mit den angenommenen Modellen Hamiltons bzw. Tänzerinnen) angibt, als Jugendliche darunter gelitten hat, eben nicht dem dort gezeigten Schönheitsideal entsprochen zu haben, nun als Kitsch enttarnt. Für den Zeitpunkt der Bildproduktion, also der Vergangenheit, gilt das Gegenteil: Hamilton hatte seinen Platz in der Kultur, seine Bilder wurden ikonisch und galten, abgesichert durch die zahllosen Anspielungen auf Vorbilder aus dem Bereich der bildenden Kunst (wie Raffael, Cranach, Balthus etc.), als Kunst. Dass es seinerzeit viele Eltern gab, die ihre Kinder unbedingt von Hamilton inszenieren und ablichten lassen wollten, scheint nur in diesem Zusammenhang plausibel (auch wenn es sprachlos macht).

Wenn man sich heute mit diesem einst als Kunst geltenden, gegenwärtig moralisch prekären Material befasst und Kitsch als Impuls für eigene Kunstabsichten verwendet, lohnt ein Blick auf eine (es gibt derer viele…) Definition des Kitsches, die vom hier bereits erwähnten Medientheoretiker Vilèm Flusser stammt:

Ich habe Kitsch provisorisch als eine Methode definiert, dank derer der Abfall in die Kultur zurückgeführt wird. (…) Abfall besteht aus Kulturobjekten, aus denen die Informationen zum Teil ausgelöscht wurden. Er ist daher im Gedächtnis ‚Kultur‘ bequem zu speichern. (Je redundanter eine Mitteilung, desto bequemer ist sie zu lagern.) Daher ist es selbst bei der gegenwärtigen Stauung in der Kultur durch eine Überproduktion an Informationen möglich, den Kitsch unterzubringen. Es ist eine bequeme, gemütliche Methode, es sich im Abfall wohnlich zu machen, darin (…) glücklich zu werden. (Flusser 2007: 296)

Ist also die Beschäftigung mit David Hamilton, dessen Bilder aus heutiger Sicht als Kitsch und damit Kulturabfall (auch im Sinne des Statusverlusts als vom Podest der Kunst ab-gefallenen) wahrgenommen werden können, eine überflüssige, oder – angesichts der artikulierten Vorwürfe an Hamiltons sexueller Übergriffigkeiten – gar unethische Bewegung des Re- oder Upcyclings? Wäre es nicht besser, diese Bilder (und deren Urheber) zu vergessen, um der Gefahr, mit diesem Abfall glücklich zu werden, zu entgehen?

Letzterem ließe sich leicht durch eine Politisierung der Produktion begegnen, so wäre der mittlerweile zur Routine gewordene Einsatz von Filtern, Weichzeichnern und anderen (Bild-)Manipulationen in jeder App, die junge Menschen, v.a. Mädchen zur Optimierung ihres Auftritts, ihres Erscheinens, ihrer Wirkung verwenden, anzuführen und als tägliches Instrument einer Verkitschung des eigenen Daseins zu entlarven: Sind diese Filtertechniken, die sich über das, was man Wirklichkeit nennen könnte, legen, nichts anderes als Komplizen der Lüge? Sind die dabei entstehenden Bilder Ausdruck einer Verdinglichung der menschlichen Existenz, die den Körper als „Hauptquelle sozialer und ökonomischer Werte“ (Illouz 2006: 123) ausmacht. Gehört, mit Horkheimer und Adorno gesprochen, „(d)ie Heroisierung des Durchschnittlichen (…)  zum Kultus des Billigen“ (Horkheimer/Adorno 1988: 165)?

Oder: Lassen sich nicht naheliegende Verbindungen zu dem ab 2017 global wirksamen #meetoo ziehen, wo tausende Frauen sich aus einer historischen Distanz heraus zu demütigenden Praktiken meist alter, weißer Männer äußerten? Etcetera.

Eva Borrmann und ihren Tänzerinnen Susanna Curtis und Alexandra Rauh geht es jedoch um etwas Anderes, sie nehmen einen relativ unbequemen Weg: Dem Gerede des Kitsches, wo, laut Flusser, Informationen zerredet werden, auf dass man sie vergessen kann, wird ein Gespräch durch / über Kunst entgegengesetzt: Es ist, mit den Sprachen des Körpers, der Anordnung im Raum, der Platzierung vor einem Publikum, ein artifiziell gefasstes Eintauchen in die Erinnerungen und Erfahrungen als Frau, die man einmal war, gegenwärtig ist bzw. zu der frau durch die Erwartungen und Zuschreibungen Anderer gemacht wurde. Das Politische ist hier nicht der schnelle Slogan oder der kurze Aufschrei, es ist das gedehnte und bewusst redundante Spiel mit Posen und Positionen, in der durch einen Verweis auf das Materielle des Körpers der Hinweis auf das Fleisch und nicht dessen Fetischisierung in den Blick gerät. Das was hier mit der Würde des Eigenen ausgehandelt wird, ist um eine Haltung bemüht, die kein Selbstzweck ist, sondern Selbstwirksamkeit anstrebt.

Die dabei entstandenen Szenen und Tableaus (und auch deren akustische Dimension) verweigern sich einfachen Antworten. Die Choreographien Borrmanns sehen ihren Sinn (und Spaß) darin, Fragen zu stellen, Fragwürdiges zu radikalisieren und dabei Gesprächs-Optionen zu bieten: Nicht moralische Bevormundung, didaktische Belehrung (als Gerede) sondern sinnlich-assoziative Beobachtung (als eben diese Option) stehen im Fokus ihres Interesses. Und dieser ist alles andere als soft

Literatur

Braungart, Wolfgang (Ed.): Kitsch. Faszination und Herausforderung des Banalen und Trivialen. Tübingen: Niemeyer 2002.

Flusser, Vilém: Gespräch, Gerede, Kitsch. Zum Problem des unvollkommenen Informationskonsums. In: Kitsch. Texte und Theorien. Hrsg. Von Ute Dettmar und Thomas Küpper, Stuttgart: Reclam 2007, S. 288-298.

Giesz, Ludwig: Phänomenologie des Kitsches. München: Fink 1971.

Horkheimer, Max / Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt am Main: Fischer 1988.

Illouz, Eva: Gefühle in Zeiten des Kapitalismus. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2006.

Mätzler, Ruth: Kitsch und Perversion. Was sich hinter der Fassade sentimentaler Inszenierungen verbirgt. Salzburg/Wien: müry salzmann 2019.

Plessner, Helmuth: Der Mensch als Lebewesen. In: Ders.: Mit anderen Augen. Stuttgart: Reclam 1982, S. 9-62.

Reichenbach, Roland: Pädagogischer Kitsch. In: Zeitschrift für Pädagogik 49 (2003), S. 775-789.