Biene Pilavci (Filmemacherin und Kuratorin) absolvierte ihr Regiestudium an der dffb 2012 mit dem abendfüllenden Dokumentarfilm ALLEINE TANZEN. 2013 entstand mit ZDF und ARTE gemeinsam Chronik einer Revolte – Ein Jahr Istanbul. Pilavci ist Stipendiatin der Kulturakademie Tarabya in Istanbul und mit Mitgründerin des filmpolitischen Netzwerks Neue Deutsche Filmemacher:innen. Sie ist Gründungskuratorin von Fiktionsbescheinigung, dem Zusatzprogramm des Berlinale Forums.

Enoka Ayemba ist Filmkurator und Filmkritiker mit Fokus auf afrikanische und Afrodiasporische Kinematografien und antikoloniale Bewegungen. Seit 2019 ist er als Berater für das Berlinale Forum tätig und hat zuletzt das Zusatzprogramm Fiktionsbescheinigung cokuratiert. Er ist Mitglied des Filmauswahlkomitees für das panafrikanische Filmfestival (FESPACO) 2023.

Migration ist kontinuierlich. Die Gründe hierfür sind genauso unterschiedlich, wie es Menschen nur sein können. Der Diskurs darüber wird im deutschsprachigen Raum einseitig, hegemonial und selten ohne Diskriminierung geführt und ist durch einen eurozentrischen Blick geprägt.

Grenzen in der Mitte: Migration und ihre Perspektiven im deutschen Film mischt sich aus der Innenansicht in diesen Diskurs ein. Es gibt gewisse Wechselwirkungen des Diskurses über Migration zwischen Medien und Gesellschaft. Die Gesellschaft wird dabei durch die Politik vertreten. In Deutschland sowie in den meisten Ländern Westeuropas bewegt sich dieser Diskurs in einem Spannungsfeld zwischen einer starken und einer zementierten Dynamik. Das heißt, ein medialer Diskurs kann von der Politik übernommen und Migration entsprechend instrumentalisiert werden. Oder der Diskurs in der Politik wird von den Medien, insbesondere im deutschen Film und Fernsehen, aufgegriffen und durch erzeugte Bilder in der gesellschaftlichen Wahrnehmung manifestiert. Eine mögliche Folge ist eine quasi-fortlaufende und selbstreproduzierende Herstellung von einem vermeintlichen „Zentrum” und einem ebensolchen „Rand”. Nicht selten liegen die Wurzeln dieser vorherrschenden Haltungen in der bisher nicht ausreichend erforschten kolonialen Vergangenheit Deutschlands.

Vor diesem Hintergrund zeichnen die Filme eine Expertise aus, in der Migration von ihren Macherinnen und Machern nicht nur erlebt wurde. Sie betrifft sie in einem Maße, in dem diese Zeugenschaft aus dem Inneren das Sujet bildet. Nicht nur, aber auch deshalb entstehen neue Perspektiven und Formen des Erzählens. Das heißt, die Filme bereichern gleichermaßen den Kanon. Leider wird filmhistorisch diese Eventualität erst seit kurzem in Betracht gezogen.

Die Kuration umfasst vier Dekaden von 1979 bis 2019 bestehend aus 17 Programmen mit 24 Kurz-, Mittel- und Langfilmen in unterschiedlichen Gattungen und Genres. Die meisten von ihnen stehen exemplarisch für zu Unrecht nicht oft genug gesehene Filme.

Es sind Filme, die den eurozentrischen Blick aufbrechen und mit multiperspektivischen, selbstreflexiven sowie innovativen Stimmen ersetzen und den Diskurs zu Migration, vor und nach dem Mauerfall, beleuchten und vorantreiben. Gleichwohl füllen sie historische Leerstellen, ohne pädagogisch zu sein. Jeder Film entstand aus einer inneren Notwendigkeit heraus.

Manchmal parieren die Filme humorvoll dem weißen Blick (FAKE SOLDIERS | IN THE NAME OF SCHEHERAZADE ODER DER ERSTE BIERGARTEN IN TEHERAN), manchmal transportieren sie schmerzhaft eine Verbitterung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft (EMPFÄNGER UNBEKANNT | DER ZWEITE ANSCHLAG | MEIN VATER, DER GASTARBEITER) und manchmal geht es um den Preis eines Bildungsaufstiegs (EXIL | MAN SA YAY - I, YOUR MOTHER | FREMD).

Die Filme zersprengen Grenzen, schaffen neue Räume, vermitteln Wissen, ermöglichen ein besseres Verständnis zu Migration und schlagen den Bogen für eine postmigrantische Gesellschaft.

Enoka Ayemba und Biene Pilavci

 

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