Vom Hinterhof zum Weltkonzern

Die Geschichte der Medizintechnik von Siemens beginnt genaugenommen bereits 1844 – drei Jahre vor der Gründung des Unternehmens – mit einer der ersten Entwicklungen von Werner Siemens: einem Apparat zur Erzeugung von Wechselstrom, dem er den Namen „Voltainduktor“ gibt. Werner Siemens schreibt in seinen Lebenserinnerungen: „Mein Bruder Friedrich litt in jener Zeit sehr an rheumatischem Zahnweh, welches alle seine sonst ganz gesunden Zähne ergriffen hatte und keinem ärztlich verordneten Mittel weichen wollte.“ Die Experimente mit dem Voltainduktor bringen die beiden auf die Idee, Strom durch Friedrichs Zahnwurzeln zu leiten, um den unerträglichen Schmerz zu lindern oder zu beseitigen. In der Tat gelingt dies bei einem besonders schmerzhaften Vorderzahn: Der Schmerz ist zunächst gewaltig, hört jedoch sofort danach auf.
„Mit der großen Willenskraft, die meinem Bruder Friedrich von jeher eigen war, behandelte er jetzt sogleich seine sämtlichen Zähne mit Durchleitung von Wechselströmen durch die Zahnwurzeln und hatte darauf den seit Wochen nicht gehabten Genuss vollständiger Schmerzlosigkeit.“ Am zweiten Tage nach der Behandlung kommen die Schmerzen jedoch zurück. Durch wiederholte „Elektrisierung“ lassen sie sich zwar erneut beseitigen, doch Friedrichs schmerzlose Zeit wird immer kürzer, bis die Wirkung schließlich ganz ausbleibt. Der Apparat muss verbessert und an die Bedürfnisse der Elektrotherapie angepasst werden.
Doch zunächst verhilft Werner Siemens einer Technik zum Durchbruch, die ein völlig neues Zeitalter der Kommunikation einläutet: die elektrische Telegrafen-Technik. Werner Siemens´ Erfindung des sogenannten Zeigertelegrafen macht die Übermittlung von Nachrichten über große Entfernungen deutlich einfacher und verlässlicher. Um die vielversprechende Technik zu etablieren, beschließt Siemens gemeinsam mit dem Feinmechaniker Johann Georg Halske ein Unternehmen zu gründen: Am 12. Oktober 1847 nimmt die Telegraphen-Bauanstalt Siemens & Halske (S&H) mit zehn Mann in einer kleinen Werkstatt in einem Berliner Hinterhof den Betrieb auf – und in den folgenden Jahrzehnten sollte das Unternehmen die Zukunft der Elektrotechnik entscheidend prägen. Im Jahre 1866 zum Beispiel legt Werner Siemens mit der Erfindung der Dynamomaschine den Grundstein für die heutige Anwendung der Elektroenergie; 1879 stellt das Unternehmen die erste Elektro-Lok der Welt vor.
Wenige Monate nach der Firmengründung beginnt Siemens & Halske mit der Serienproduktion des Schlitteninduktors, dem ersten medizinischen Apparat in der Geschichte des Unternehmens. Bild aufgenommen Ende des 19. Jahrhunderts. © Siemens Historical Institute
Die Verbindung mit Johann Georg Halske festigt Werner Siemens´ Interesse an der Elektromedizin, das mit der Behandlung der Zahnschmerzen seines Bruders begonnen hatte. Halske besitzt Erfahrung bei der Herstellung von Geräten zur Messung des Muskel- und Nervenstromes, die er nach den Wünschen des Physiologen Emil Du Bois-Reymond gebaut hat. In diese freundschaftliche Zusammenarbeit wird nun auch Werner Siemens einbezogen. Im Mai 1848, wenige Monate nach der Firmengründung, stellt Siemens & Halske eine verbesserte Ausführung des Voltainduktors vor: Mit dem Schlitteninduktor lässt sich die Stärke des Stroms fein regulieren und an die Erfordernisse verschiedener Therapien anpassen. Im Laufe der folgenden Jahre entstehen acht unterschiedliche, nach den Vorschlägen von Ärzten gebaute Varianten des Apparats. Der Schlitteninduktor – einer der ersten elektromedizinischen Apparate überhaupt – wird jahrzehntelang gebaut und in alle Welt verkauft.
Am 8. November 1895 entdeckt Wilhelm Conrad Röntgen in Würzburg die X-Strahlen, etwa dreieinhalb Monate später meldet Siemens & Halske in Berlin das weltweit erste Patent einer Röntgenröhre an. Im rund 450 Kilometer entfernten Erlangen feiert der Medizintechnik-Hersteller Reiniger, Gebbert & Schall (RGS) zur gleichen Zeit ebenfalls erste Erfolge in der Röntgen-Technik. Die Siemens-Medizintechnik und Reiniger, Gebbert & Schall liefern sich in den folgenden drei Jahrzehnten ein Wettrennen um die fortschrittlichste Technik – bis Siemens den Wettbewerber aus Erlangen im Jahre 1925 übernimmt und die eigene Medizintechnik-Fertigung nach Mittelfranken verlegt.
Werner Siemens - ab 1888 im Adelsstand Werner von Siemens - und Johann Georg Halske eröffnen im Jahre 1847 eine kleine Werkstatt in Berlin: die Telegraphen - Bauanstalt Siemens & Halske. © Siemens Historical Institute
Die ganze Geschichte
Buch: Die Geschichte von Siemens Healthineers © Siemens Buchhandel
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232 Seiten, 32 Euro.
Die Geschichte von Siemens Healthineers ISBN: 978-3-96395-029-2
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