Lernen Sie die Filmkünstler:innen unseres Themenschwerpunktes besser kennen!

"Den eigenen Blick entkolonisieren" - dieser Anspruch wird nicht nur von Kulturkritiker:innen oder Aktivist:innen immer wieder erhoben, inzwischen fragt sich ein emanzipiertes Publikum ganz von selbst, ob es nicht mit einem "white gaze", also einem durch europäische und nordamerikanische Denkmuster geprägten Blick, auf die Welt schaut. Gerade im Kino, das historisch sehr stark durch Hollywood und die europäischen "Kinonationen" geprägt ist, fallen die Leerstellen auf. Welche Regisseur:innen oder Schauspieler:innen aus südostasiatischen oder lateinamerikanischen Ländern kennen wir? Die Liste dürfte recht kurz ausfallen.

Aber Wissenslücken können geschlossen werden und die Neugier, über den Tellerrand zu blicken, kann enorm bereichernd sein. Wir möchten Sie begleitend zu unserem Filmprogramm einladen, die Filmemacher:innen unserer Reihe Decolonizing The Screen! genauer kennenzulernen und mehr über ihre künstlerischen und politischen Haltungen zu erfahren.

Ousmane Sembènes DIE SCHWARZE VON... (LA NOIRE DE...) kommt eine besondere Rolle zu, kann er doch als ein Startschuss für ein selbstbestimmtes afrikanisches Kino angesehen werden. Sembène (1923 - 2017) war ein ehemaliger Fabrikarbeiter und wurde Mitte der 1950er Jahre zunächst als Schriftsteller bekannt. 1962 ging er nach Moskau und studierte dort Film. Nach seiner Rückkehr im Senegal begann er, Kurzfilme zu drehen, die ihm bereits die Einladung auf internationale Filmfestivals einbrachten.

Für LA NOIRE DE... ließ Sembéne sich von der Nouvelle Vague inspirieren und drehte mit Handkamera und ohne künstliches Licht. Bewußt nutzt der Film starke Kontraste zwischen den Farben schwarz und weiß, um auch in der Bildsprache die Konflikte Diouanas widerzuspiegeln. Der Film erhielt den Jean-Vigo-Preis 1966 und den Preis des Dakar Black Arts Festival Mandabi.

"Um dem Film eine Innerlichkeit zu verleihen, verwendete Sembéne einen inneren Monolog des Mädchens, um diesen von der von ihren Chefs so dominierten Aussenwelt zu trennen, werden die Gedanken von einer anderen Schauspielerin gesprochen. Das war neu und rückte die verschiedenen Ebenen ihres Lebens in den Mittelpunkt der Geschichte. Sembènes Pionierarbeit inspirierte andere Regisseur*innen, der tunesische Kritiker und Filmemacher Férid Boughedir etwa nannte LA NOIRE DE... ‹unglaublich, enorm bewegend, schön, würdevoll, menschlich und intelligent›. Sembène sollte später einige der wichtigsten afrikanischen Filme der 1970er Jahre drehen.»

Mark Cousins: The Story of Film

Die Regisseurin Sarah Maldoror (1929–2020) ist eine in Südfrankreich geborene Tochter eines Vaters aus Guadeloupe und einer französischen Mutter. Im Jahr 1956 war sie Gründungsmitglied der Schwarzen Thea­ter­gruppe Les ­Griots in Paris, die Stücke von Aimé Césaire und Jean Genet auf die Bühne brachte. Anschließend studierte Sarah Maldoror Film in Moskau.

Maldoror verstand sich als Internationalistin, im Laufe ihrer Karriere hat sie über 30 Filme realisiert, die wichtige Themen der afrikanischen Geschichte und Gegenwart aus einer Schwarzen Perspektive verhandeln. Ihr Werk ist kämpferisch, thematisch und formal vielfältig und gleichzeitig von großer Kohärenz. Zentrale Motive sind Befreiungsbewegungen, Frauenrollen, die Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus sowie Künstler:innen des Surrealismus und der Négritude.

Eine besondere Vorliebe hatte Sarah Maldoror für die kurze Form, sie drehte beispielsweise einige Kurzportraits fürs französische Fernsehen (u. a. eine Kurzdoku über die auch in unserer Reihe vertretene Schriftstellerin und Filmemacherin Assia Djebar). Wir haben aus ihrem Werk ihren frühen Kurzfilm MONANGAMBEE ausgewählt, der die Unterdrückung der angolanischen Freiheitsbewegung durch die portugiesische Kolonialmacht thematisiert. Die Filmmusik steuerte das Art Ensemble Of Chicago bei.

Tomás Gutiérrez Alea (1928 - 1996) wurde dem internationalen Publikum vor allem durch ERDBEER UND SCHOKOLADE (1993, gemeinsam mit Juan Carlos Tabío) bekannt, sein filmisches Schaffen begann aber bereits in den 1950er Jahren und umfasst zahlreiche Spielfilme, Dokumentationen und Kurzfilme. Von der Revolution auf Kuba beflügelt und durch Castros wohlwollende Kulturpolitik zugunsten des Kinos mit den nötigen Mitteln ausgestattet, waren die 1960er Jahre Aleas produktivste Phase. Hier entstanden die beiden meisterlichen Satiren DIE 12 STÜHLE (1962, Romanverfilmung nach I. Ilf und J. Petrow) und DER TOD EINES BÜROKRATEN (1966), mit denen der Regisseur Bürgertum und Bürokratie aufs Korn nahm. ERINNERUNGEN AN DIE UNTERENTWICKLUNG (MEMORIAS DEL SUBDESARROLLO) hatte die gleiche Gesellschaftsschicht im Auge, fiel aber wesentlich subtiler aus und bringt seinem zunächst unsympathischen Hauptprotagonisten Sergio durchaus ein wenig Wärme entgegen. In noch heute äußerst moderner Form verbindet Alea die Spielfilmhandlung mit dokumentarischen Bildern. Der Film wurde bei seiner Veröffentlichung in Kuba 1968 als "zu wenig revolutionär" wahrgenommen, da er nicht dem Ideal des sozialistischen Realismus entsprach. International hingegen war MEMORIAS ein großer Kritikererfolg und gilt als Meisterwerk des lateinamerikanischen Kinos.

"MEMORIAS DEL SUBDESARROLLO gehört zu den größten Filmen nicht nur Kubas sondern der Kinogeschichte überhaupt. (...) Eine der klügsten und tiefgründigsten Reflexionen über die kubanische Revolution, schillernd und rätselhaft wie sein Titel, ein Film, der Ende der 1960er Jahre noch einmal mit aller Kraft offenbarte, was in der Siebten Kunst noch immer für ein Potenzial steckt und dass visuelles Erzählen halt schon etwas mit gestalteten Bildern zu tun hat und nicht nur mit abgefilmtem Theater. Noch heute besticht dieser Film in seiner Gestaltung und er macht daneben auch überdeutlich, wie klar die Probleme des kubanischen Systems eigentlich schon waren, zu einer Zeit, in der es selber sie noch hätte korrigieren und verbessern können."

Walter Ruggle, Trigon

Der mauretanischen Regisseur Med Hondo (1936 - 2019) gehört zur Gründungsgeneration des postkolonialen afrikanischen Kinos. Hondo kam mit 25 Jahren nach Paris, arbeitete zunächst in Aushilfsjobs und gründete eine Theatergruppe, er selbst nahm Schauspielunterricht bei der renommierten Schauspielerin Françoise Rosay und spielte u. a. in Stücken von Shakespeare und Moliére. Ab Mitte der 1960er Jahre widmete er sich zunehmend dem Film, er wirkte als Darsteller in einigen Kurzfilmen mit und drehte ab 1965 schließlich seinen ersten Spiefilm als Regisseur, SOLEIL Ô, der 1970 fertiggestellt wurde. Es folgten acht weitere Filme, darunter die Historienfilme NOUS AURONS TOURE LA MORT POUR DORMIR (1975), WEST INDIES (1979) und SARRAOUNIA (1986), die sich explizit mit dem Kolonialismus auseinandersetzen.

Seinen Lebensunterhalt bestritt Med Hondo größtenteils als Synchronsprecher, u. a. lieh er Sidney Poitier, Morgan Freeman, Ben Kingsley und Danny Glover in französischen Synchronfassungen seine Stimme. Der bis zu seinem Tod in Frankreich lebende Künstler beschäftigte sich intensiv mit Themen wie Exil, kolonialem Denken und Rassismus. Med Hondo zeigte sich zeitlebens stets sehr selbstbewußt und wenig kompromissbereit, er lehnte die Ausbeutung durch europäische Filmfestivals und schlecht bezahlte Filmverleihdeals ab und eckte damit häufig an. Seit seinem Tod 2019 wird sein Werk als Regisseur international breit wiederentdeckt.

Seinem Debütfilm DER PARFÜMIERTE ALPTRAUM (1977) verdankt der philippinische Regisseur Kidlat Tahimik nicht nur den inoffiziellen Titel "Vater des unabhängigen philippinischen Kinos". Der Film, der auf der Berlinale 1977 seine Premiere erlebte, avancierte zum Kultfilm und zählt bis heute zu den prononciertesten Filmen des postkolonialen Kinos, das den Protest gegen die Ausbeutung des globalen Südens mit einer Rebellion gegen konventionelle Filmformen verband.

Eric de Guia, aka Kidlat Tahimik, wurde 1942 in Baguio (Philippinen) geboren, wo er auch heute wieder lebt. Nachdem er an der University of the Philippines Theater studiert hatte, nahm er ein Masterstudium in Ökonomie am renommierten Wharton College in Pennsylvania (USA) auf und schloss es ab mit einer Arbeit über die Schuldenprobleme der "Dritten Welt". Ein Job bei der OECD brachte ihn Anfang der 1970er Jahre nach Paris. Dort müssen ihm dann bald erste Zweifel gekommen sein an einem gut bezahlten Leben mit den Zahlen und er erinnerte sich an seine Jugendträume vom Theater und der Schauspielerei.

Um sich das Startkapital für ein Künstlerleben zu verdienen, organisierte er auf den Philippinen eine Souvenirproduktion für die Münchner Olympiade und reiste im Sommer 1972 mit 25.000 "Olympia Waldi"-Windspielen nach München. Das Geschäft lief gut an, kam dann aber nach der Geiselnahme israelischer Sportler durch die palästinensische Terrorgruppe Schwarzer September rasch zum Erliegen. Tahimik blieb jedoch in Bayern, lebte auf einer Landkommune bei Ingolstadt und geriet ins Umfeld der Münchener Filmschule - was ihm schließlich eine Nebenrolle in Werner Herzogs Kaspar-Hauser-Film JEDER FÜR SICH UND GOTT GEGEN ALLE (1974) (bis 5.10. in unserem kino3 online zu sehen) einbrachte. In Bayern begegnete er auch seiner zukünftigen Frau Katrin.

Ohne formale Filmausbildung und weitgehend abseits institutioneller Produktionswege hat Kidlat Tahimik in rund 40 Jahren ein einzigartiges und schillerndes Gesamtwerk geschaffen, das bis dato fünf lange und sechs mittellange Filme sowie fünf kürzere Video Diaries umfasst. Kidlat Tahimik ist aber nicht nur Filmemacher, sondern auch Installationskünstler, "Kulturenbeobachter" und Wanderer zwischen den Welten. In seinem Heimatort war er gemeinsam mit seiner Frau Katrin de Guia maßgeblich an der Gründung der Baguio Artists Guild beteiligt und er wirbt seit vielen Jahren für den Respekt vor der Kultur der Ifugao, einer indigenen Volksgruppe aus dem Luzon-Gebirge, bei denen Tahimik zeitweise auch lebt und lernt. Legendär sind Tahimiks öffentliche Auftritte, mit denen er, wann immer möglich, die Vorführungen seiner Filme begleitet, und bei denen seine vielfältigen Beschäftigungen und Anliegen zu spontanen Gesamtkunstwerken collagiert werden.

(Biografie leicht gekürzt von der Website des Künstlers)

Ruy Guerra wurde 1931 in der damaligen portugiesischen Kolonie Mosambik als Sohn portugiesischer Einwanderer:innen geboren. Mit 19 Jahren verließ er Mosambik und ging zum Filmstudium nach Paris. Bereits als Jugendlicher soll er Filmkritiken geschrieben und Kurzfilme gemacht haben. Um 1956 begann Guerra als Regieassistent für französische Filme zu arbeiten, bevor er 1958 nach Brasilien auswanderte.

Guerra gehört in Brasilien zu den zentralen Figuren des Cinema Novo, einer Erneuerungsbewegung, die ähnlich der Nouvelle vague nach frischen Ausdrucksformen suchte. Seine ersten beiden FIlme begründeten seinen Ruhm: OS CAFAJESTES (1962) und OS FUZIS (1964) liefen beide auf der Berlinale, OS FUZIS wurde mit einem Silbernen Bären ausgezeichnet. Guerras Kino war immer stark politisch aufgeladen, bereits in Mosambik hatte er sich in antikolonialen Gruppen engagiert. Ende der 1970er Jahre kehrte er in das Land seiner Geburt - inzwischen von Portugal unabhängig - zurück und drehte MUEDA, ERINNERUNG UND MASSAKER, einen der ungewöhnlichsten Filme seiner Karriere. Grundlage des Films bildet ein Reenactment des von den portugiesischen Kolonisatoren verübten Massakers von Mueda im Jahr 1960.

Assia Djebar (1936 - 2015) war eine algerische Schriftstellerin und gilt als eine der wichtigsten literarischen Stimmen des Maghreb. Sie wurde als Fatima-Zohra Imalayène in der Nähe von Algier geboren und entstammte einer traditionellen Großfamilie. Die liberalen Einstellungen ihrer Eltern ermöglichten ihr eine hohe Schulbildung in Frankreich und den Besuch einer Eliteuniversität. Sie engagierte sich gemeinsam mit anderen algerischen Student:innen im antikolonialistischen Kampf, nahm an einem Studentenstreik teil und musste die Universität deshalb nach zwei Jahren Studium verlassen.

1957 veröffentlichte sie ihren ersten Roman DURST, der offen weibliche Sexualität thematisierte, und nahm aus Rücksicht auf ihre Familie den Künstlerinnennamen Assia Djebar an. Im Laufe ihres Lebens veröffentlichte sie 15 weitere Romane, einige Bände mit Erzählungen sowie Hörspiele und Theaterstücke. In Frankreich, aber auch in anderen europäischen Ländern wurde sie zu einer Bestsellerautorin und zu einer öffentlichen Intellektuellen. Wenig bekannt ist, dass Djebar in den 1970er Jahre einige Male als Regieassistentin arbeitete und selbst zweit Dokumentarfilme drehte. Für LA ZERDA UND DIE GESÄNGE DES VERGESSENS erhielt sie auf der Berlinale 1982 den Sonderpreis für den besten historischen Film.

Merata Mita (1942–2010) war eine Wegbereiterin des Māori-Films in Aotearoa/Neuseeland und eine Vordenkerin des internationalen Indigenen Kinos. Sie war die erste weibliche Māori-Regisseurin, die einen Spiefilm drehen konnte: MAURI entstand 1988 und wurde 2019 digital überarbeitet, die restaurierte Fassung erlebte ihre Weltpremiere beim Filmfestival in Venedig. Vor MAURI hatte sie sich bereits als Dokumentarfilmemacherin einen Namen gemacht. In PATU! (1983) dokumentierte sie die Tour der südafrikanischen Rugby-Nationalmannschaft durch das Land. Die Tour spaltete die neuseeländische Nation und zwang Regierung und Bevölkerung, sich mit der eigenen unaufgearbeiteten kolonialen Vergangenheit auseinander zu setzen. Mita gelang mit diesem Film ein international beachteter Meilenstein des antikolonialen Kinos.

Die Bedeutung von Merata Mitas Schaffen für das Indigene Kino wird u. a. durch das Merata Mita Stipendium deutlich, das jährlich vom Sundance Film Festival an indigene Filmemacherinnen vergeben wird. Mitas Sohn Hepi Mita drehte posthum die Netflix-Doku MERATA: HOW MUM DECOLONISED THE SCREEN (2019), die ihrem Schaffen ein Denkmal setzte und weltweit auf zahlreichen Festivals gezeigt wurde.

Abderrahmane Sissako wurde 1961 in Mauretanien geboren und verbrachte Kindheit und Jugend in Mali. Anschliessend lebte er 10 Jahre in Moskau, wo er am nationalen Filminstitut VGIK drehte. In Moskau entstanden sein Abschlussfilm LE JEU (1989) und das Zweitwerk OKTOBER (1993). Er siedelte nach Frankreich über und drehte in Mauretanien EN ATTENDANT LE BONHEUR und wählte abermals das Exil als zentrales Thema für einen Film. Diese Frühwerke sind von einem zurückgenommenen, in sich ruhenden Hinschauen geprägt, gepaart mit einer Poesie des Alltags und einer Sensibilität für zwischenmenschliche Beziehungen. 1997 nahm Sissako als Künstler an der Documenta X teil.
 

Mit seinem Film BAMAKO (2006) erweiterte er sein ästhetisches Spektrum und bezog Elemente des Reenactments und der Parodie mit ein. Der Film ist eine kluge, stille Anklage gegen die Ausbeutung durch die Länder des globalen Nordens und insbesondere gegen die ungerechte Politik des Internationalen Währungsfonds.

In seinem bisher letzten Spielflm TIMBUKTU (2014) steht die von Mythen umwobene malische Stadt Timbuktu im Fokus, welche von Dschihadisten übernommen wird, die ihre Regeln der Bevölkerung aufzwingen wollen. Der Filmemacher setzt hier dem grassierenden Fundamentalismus auf sanfte Art ein zutiefst menschliches Filmgedicht entgegen. Abderrahmane Sissako lebt heute in Frankreich und arbeitet aktuell an seinem nächsten Film.

Warwick Thornton (*1970) arbeitet als Filmregisseur, Kameramann, Drehbuchautor und bildender Künstler. 1994 schloss Thornton seine Ausbildung als Kameramann bei der Central Australian Aboriginal Media Association in Alice Springs ab, deren Aufgabe es ist, die Kultur der indigenen Bevölkerung bekannt zu machen. 1997 schloss er mit dem Bachelor of Arts ein Kamerastudium an der Australian Film Television and Radio School in Sydney ab. Während und nach seinem Studium widmete sich Thornton bei seiner Arbeit der indigenen Kultur. Nach eigenen Aussagen sieht er sich als Filmemacher in der Tradition der indigenen Erzählkultur, und in dieser werde die Gegenwart über die Vergangenheit und die Zukunft erzählt.

Mit seinem Spielfilmdebüt SAMSON & DELILAH, dem ersten Spielfilm von einem indigenen Regisseur mit einem indigenen Cast überhaupt, wurde er 2010 bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet, der Film wurde von Australien als Kandidat für die Oscarverleihung 2010 in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film ausgewählt. Für seinen zweiten Spielfilm, den Neo-Western SWEET COUNTRY erhielt Warwick 2017 den Großen Preis der Jury der Internationalen Filmfestspiele von Venedig und den Plattform Prize beim Toronto International Film Festival.

Das philippinische Kino ist eines der spannendsten weltweit, daher ist in unserer Reihe neben Kidlat Tahimik ein weiterer Regisseur aus diesem Land vertreten. Lav Diaz (*1958) gehört der Generation "nach Tahimik" an und ist inzwischen Stammgast auf den internationalen Filmfestivals. Seine Filme zeigen die Nöte der Menschen auf den Philippinen, unter dem Joch der spanischen und amerikanischen Kolonisation, während der autoritären Marcos-Ära und in der Diaspora. Vor den Festivalpremiere von NORTE - THE END OF HISTORY (Cannes 2013) galt Diaz als uninteressant für den Kinomarkt außerhalb Asiens. Das lag in den Augen der Verleiher an den enormen Spiellängen seiner Filme, die von drei bis zehn Stunden reichten.

NORTE war ein Wendepunkt für Diaz. Die internationale Kritik reagierte äußerst wohlwollend auf das sichtbar größere Budget und die "Produktionsstandards" dieses Films. Dem Publikum musste man nachsehen, dass es den Eindruck bekam, dieser Filmemacher käme aus dem Nichts: obwohl er zu diesem Zeitpunkt schon zwei Jahrzehnte aktiv war, wurde NORTE zum ersten Film, der weltweit in vielen Ländern einen Vertrieb fand.

Diaz' Lehrjahre führten ihn in die "pito-pito"-Filmstudios der Philippinen, wo für Vorproduktion, Dreh und Postproduktion jeweils nur sieben Tage veranschlagt wurden. Von diesen frühen Werken enthält nur NAKED UNDER THE MOON (1999) Anzeichen seines späteren formellen Einfallsreichtums. Diaz' erstes wirkliches Meisterwerk war sein letzter auf Zelluloid gedrehter Film BATANG WEST SIDE, der die alltäglichen Kämpfe von migrantischen Communities in Jersey City/USA zeigt. Kurz zuvor hatte Diaz bereits mit der Arbeit an dem epischen Film EVOLUTION OF A FILIPINO FAMILY (fertiggestellt 2004) begonnen, das erste seiner Werke, für das er MiniDV nutzte, ein für den Heimgebrauch gedachtes Digitalvideo-System, welches neue kreative Freiheiten ermöglichte. Ohne die technischen und finanziellen Grenzen, die das Arbeiten mit Filmmaterial mit sich brachte, wuchsen die Filme von Lav Diaz in der Länge. Der über den Zeitraum von zehn Jahren entstandene EVOLUTION zeichnet das schwierige Leben einer Bauernfamilie auf den Philippinen in den 1970er und 1980er Jahren nach.

Mit der wachsenden Zugänglichkeit digitaler Kameras wurden Diaz' Filme zunehmend ambitionierter und bedienten sich zur Inspiration gleichermaßen bei russischer Literatur wie beim gegenwärtigen soziopolitischen Status quo der Philippinen. Die ästhetische Handschrift von Lav Diaz blieb während dessen immer intakt. Zudem ist er einer der produktivsten Filmemacher überhaupt, 2022 stellte er gleich zwei neue Filme vor: A TALE OF FILIPINO VIOLENCE (Weltpremiere in Locarno) und WHEN THE WAVES ARE GONE (Weltpremiere in Venedig).

Anisia Uzeyman (*1975) und Saul Williams (*1972) sind das Regie-und-Drehbuch-Team hinter dem afrofuturistischen Film NEPTUNE FROST. Uzeyman wurde in Ruanda geboren und arbeitet als Schauspielerin und Drehbuchautorin. DREAMSTATES war 2016 ihr Debüt als Regisseurin, für diesen Spielfilm schrieb sie auch das Drehbuch und stand vor der Kamera. Saul Williams wurde in den 1990er Jahren als Spoken Word-Artist bekannt, der seitdem sowohl mit Soloalben, als auch durch zahlreiche Kooperationen (u. a. mit Janelle Monáe, DJ Krust, Coldcut, Nine Inch Nails) zu einer festen Größe der US-Underground-Musikszene wurde. Einem Kinopublikum wurde er 1998 durch eine der Hauptrollen in SLAM bekannt, zuletzt spielte er die Hauptrolle in dem Thriller AKILLA'S ESCAPE (2021).

NEPTUNE FROST basiert auf Ideen aus Saul Williams' Album "MartyrLoserKing" und wurde von Uzeyman und Williams gemeinsam entwickelt und umgesetzt. Der Film feierte seine Weltpremiere 2021 bei den Filmfestspielen in Cannes und tourte seitdem weltweit auf unzähligen Festivals.