Oliver van den Berg (*1967 in Essen; lebt und arbeitet in Berlin) wurde durch Skulpturen und Installationen bekannt, die von technischen Instrumenten wie Flugschreibern, Radargeräten oder Sternenprojektoren ausgehen. Diese übersetzt er in Skulpturen mit technoider Anmutung. Seine Vorbilder aus diversen Gebieten der Technik, der Raum- und Luftfahrt, der Informations- und Kommunikationstechnologie ebenso wie der Kriegsführung, werden ihrer Funktion und auch ihrer Materialität beraubt. Denn oft verwendet Oliver van den Berg für seine Skulpturen Nadelhölzer und damit ein traditionelles, bildhauerisches Material. So „kopieren“ seine Werke existierende Gegenstände und sind dennoch artifizielle Objekte, die sich zwischen Original und Abbild bewegen.

Auch der Ausstellungstitel Blinde Passagiere ist in diesem Kontext zu deuten: Ein blinder Passagier ist nicht blind, sondern er reist versteckt und ist für seine Mitreisenden nicht sichtbar. Auch alltägliche Objekte besitzen eine versteckte Ebene, für die wir im Alltag blind sind. Erst wenn Objekte aus ihrem Kontext genommen werden und ihre ursprüngliche Funktion verlieren, können wir diese mit anderen Augen sehen und neue Fragen stellen.

Im Snoeck Verlag ist die Monografie Oliver van den Berg: Werke erschienen (376 Seiten mit rund 500 Abbildungen, Leinenband bedruckt, ISBN 978-3-86442-382-6, 58 Euro).

Das Leporello zur Ausstellung Oliver van den Berg. Blinde Passagiere informiert Sie über das umfangreiche Begleitprogramm.

Die Werke von Oliver van den Berg sind stets Zitate und Variationen von Bestehendem. Der Fokus seiner bildhauerischen Arbeit kreist um die Themen Abbild, Wiederholung und Nachahmung. Zugleich stehen seine Skulpturen immer auch für eigene Formschöpfungen, denn sie sind Aneignungen und individuelle Neuinterpretationen. Objekte verändern sich, wenn sie ihre Funktion verlieren oder sich ihre Materialität wandelt. Plötzlich stellen die Dinge neue Fragen, auch ein Alltagsgegenstand wie ein Wäscheständer (2013) oder ein für den musealen Gebrauch konzipierter Bilderwagen 2 (2023). Doch was repräsentieren diese Objekte, wenn sie ihre Funktion verloren haben? Auch das für die Ausstellung in der Kunsthalle Nürnberg titelgebende Werk  Blinder  Passagier(2004) ist hinsichtlich der Farbigkeit, Lackierung sowie Oberflächenbeschaffenheit die täuschende Kopie eines Flugschreibers. Doch durch seine hölzerne Materialität wird die Funktion als Informationsspeicher unterlaufen. Der Flugschreiber verwandelt sich in sein Gegenteil: Er wird zu einer hermetischen Black Box, die keinerlei Information und Erkenntnis bereithält. Mit BlinderPassagier thematisiert Oliver van den Berg auch die menschliche Technikgläubigkeit. So ist ein Flugschreiber stets eine Metapher für die potenzielle Katastrophe. Er repräsentiert das Scheitern der Technik. Könnte ein Flugzeug absolute Sicherheit versprechen, wäre ein Flugschreiber überflüssig, denn seine einzige Aufgabe besteht darin, Daten zu speichern, die im Rückblick über eine Katastrophe informieren.

Aus dem Alltag kennen wir alle die Angewohnheit, ein Blatt Papier vor dem Wegwerfen zu zerknüllen. Ein kleiner Akt der Zerstörung, der aber zugleich auch etwas Neues entstehen lässt: Aus einem flachen Blatt Papier wird ein volumenhaftes Objekt. Für Knitterwelt 2 (2013) und Knitterwelt 4 (2013) zerknüllte Oliver van den Berg Weltkarten. Aus der zweidimensionalen Karte wird ein dreidimensionales Objekt, welches in seiner Form an einen Globus und damit an ein kugelförmiges Modell der Erde erinnert. Zugleich repräsentieren seine Knitterwelten alternative Weltentwürfe, denn durch das Zerknittern der Karten entstehen neue Nachbarschaften, neue Grenzen und eine neue Ordnung.

Auch andere Werke spielen mit der Irritation, die aus (vermeintlichen) Doppelungen entsteht: Die Bodenarbeit  Lache 5  (2018) besteht aus zwei identischen Teilen. Flüssiges Aluminium wurde ausgegossen und hat sich in einer zufälligen Form verfestigt. Während des Ausgießens folgt das Aluminium den Gesetzen des Zufalls wie der Physik. Es können keine zwei identischen Lachen entstehen, aber dennoch sehen die beiden Lachen in ihrer Form identisch aus. Tatsächlich ist eine der beiden Lachen durch ein Abgussverfahren entstanden und ist somit die Kopie ihres Vorbilds. Aber welche Lache ist das Original und welche das Duplikat? Diese Frage kann nicht beantwortet werden und verliert ihre Relevanz.

Ein Blick zurück zeigt die Arbeit Schild Freund-Feind (2002): Das Werk suggeriert eine einfache Antwort auf eine unendlich komplexe Frage: Wer ist Freund und wer ist Feind? Das Schild aus einfachen Holzlatten, das ästhetisch vage an den Wilden Westen erinnert, scheint die Komplexität der Frage auf eine simple Entscheidung herunterzubrechen: Rechts oder links? Mit Ironie blickt Oliver van den Berg hier auch auf eine Welt, in der uns immer wieder von verschiedensten Protagonist*innen einfache Wahrheiten angeboten werden, die der Komplexität unserer Welt aber nicht gerecht werden.

Oft nutzt Oliver van den Berg die Fotografie, um im Alltag Beobachtungen und Objekte zu dokumentieren. Diese Aufnahmen dienen als Vorlagen für seine Skulpturen und Installationen. Die Fotografie als künstlerisches Medium ist in seinem Werk hingegen selten, aber, wie einige Fotoarbeiten im ersten Ausstellungsraum zeigen, existent. Ein Spiel mit unserer Wahrnehmung zeigt sich auch hier: Die dreiteilige Fotoarbeit Philipp, Sven, Dennis (1998) zeigt dreimal das exakt gleiche Umfeld. Einzig die drei gleichaltrigen Kleinkinder auf dem Schoß des Mannes wechseln. Zwei der drei Kinder sind eineiige Zwillinge; der dritte Junge ist lediglich gleichaltrig. Doch ohne einen genauen Blick für die Details, sehen wir vermeintlich immer die gleiche Szene.

Auch die zweiteilige Arbeit Vasen Oma M.1 (2013) spielt mit unserer Beobachtungsgabe: Bei jedem Besuch der Oma M. fotografierte Oliver van den Berg ein Regal, welches zur Aufbewahrung von Vasen diente, und jedes Mal wies das Stillleben kleine Veränderungen auf. Hier wie auch bei den Fotoarbeiten Gartenschlauch (2022) und Gewächshaus (2022) interessiert den Künstler die Gleichheit der Dinge bei gleichzeitiger Unterschiedlichkeit – eine Fragestellung, um die auch sein bildhauerisches Werk zentral kreist. Die Fotoarbeit Fuchs (2022) zeigt einen Mann in einem Fuchskostüm, an einem Pool in einem Garten sitzend. Auch hier spielt Oliver van den Berg mit Doppelungen und Zweideutigkeiten: der Verschmelzung von Person und Kostüm, von Mensch und Tier, von Heiterkeit bei gleichzeitiger Melancholie. Zugleich scheint der Pool ein mondänes Leben zu repräsentieren, das sich angesichts des sichtbaren Verfalls des bürgerlichen Eigenheims nicht erfüllt.

Nur wenige Kunstwerke versetzen uns als Betrachtende derart unmittelbar in eine hypothetische Handlungssituation wie Oliver van den Bergs Installation Mikros (2006). Die unzähligen Mikrofone sind auf ihre prototypischen Formen reduziert. Ergänzt durch Stative und Tische inszeniert der Künstler ein heterogenes Geräte-Ensemble und zugleich ein imaginäres Medienereignis. Alle Mikrofone richten ihre konzentrierte Aufmerksamkeit auf eine Leerstelle, sodass wir selbst zur Nachricht des medialen Großereignisses werden. Bewegen wir uns jedoch durch den Ausstellungsraum werden wir zu Kompliz*innen des hölzernen Ensembles, das als Paraphrase der Medienindustrie mit ihrem nicht zu stillenden Hunger nach Information gelesen werden kann. Der Installation Mikros ist die Arbeit Präsentationspult (2008) gegenübergestellt: ein Pult aus Aluminium, auf dem verschiedene Objekte zu finden sind, die technische Geräte repräsentieren, die die menschlichen Sinne ersetzen bzw. verstärken.

Der Schriftzug Electronic Land (2003), von Oliver van den Berg mit der Stichsäge aus einer MDF-Platte gesägt, ist die Kopie eines bestehenden Schriftzuges, den der Künstler auf der Plane eines abgestellten LKW-Anhängers entdeckte. Um die 2000er-Jahre fotografierte Oliver van den Berg immer wieder Anhänger, die irgendwo in der Peripherie abgestellt wurden und damit eine seltsame Gleichzeitigkeit von Mobilität und Immobilität zu repräsentieren schienen. In diesem Kontext dokumentierte er auch einen Anhänger mit dem Schriftzug „Electronic Land“, der in seiner heiteren 1970er-Jahre-Typografie ein nicht näher zu fassendes Versprechen zu formulieren scheint. Der Schriftzug strahlt Optimismus, Zuversicht und Zukunftsgläubigkeit aus, jedoch steht diese positive Botschaft im Widerspruch zu dem im Niemandsland vergessenen LKW-Anhänger. Auf die Wand montiert scheint der Schriftzug eine seltsam vage bleibende Verheißung zu versinnbildlichen.

Auch die Installation Transmitterwand (2012) beruht auf Fotografien: Immer wieder hat Oliver van den Berg im öffentlichen Raum Funk- und Fernsehantennen oder die sichtbare Verschalung von Transmittern aufgenommen. Basierend auf diesen Fotografien ist eine vielteilige Wandinstallation entstanden, die theoretisch unendlich erweiterbar wäre. Auch für die Transmitterwand inspirieren Oliver van den Berg existierende Gegenstände, denen er in einer wie auch immer gearteten Wiederholung zu huldigen versucht. Das im Alltag Gesehene wird jedoch nie exakt kopiert, da skulpturale Fragestellungen in den Fokus rücken. Inhaltlich zentral ist dabei die Funktion eines Transmitters: Als eine Art „Übersetzer“ empfängt er Informationen und überträgt sie in ein neues und andersartiges Signal.

Der Ausgangspunkt für die silhouettenhafte Sperrholz-Arbeit Raketennamen II (2008) sind Querschnitte von real existierenden Raketen, die mit Vornamen wie Veronique, Lance und John oder Tiernamen wie Terrier, Pinguin und Adler benannt sind. Teils sind die Vorbilder Kriegswaffen, teils aber auch Wetter- oder Trägerraketen, die dem Transport von Menschen oder Nutzlasten dienen. Ein besonderes Augenmerk von Oliver van den Berg gilt der Einheit von Mensch und Technik. Die Verknüpfung von Person und Gerät ist in seiner Beobachtung besonders eklatant bei Waffen oder auch Jagdfliegern.

Oliver van den Bergs Flieger (2007) erinnert in seiner zarten, aus Alublech gefalteten Erscheinung formal an einen kindlichen Papierflieger. Seine Größe und die scharfen Kanten verleihen dem Flieger jedoch eine gewisse Ambivalenz, sodass sich dieser zwischen kindlichem Spiel und militärischem Zusammenhang bewegt. Die Arbeit Hellfire (2009) besitzt aufgrund ihrer Realitätsnähe hingegen eine bedrückende Präsenz im Raum, obwohl Oliver van den Berg auch diese Skulptur aus Holz gefertigt hat. Seine Attrappe ist ein direktes Zitat einer US-amerikanische Panzerabwehrrakete, einer „smarten“ Rakete, die sich selbst steuert und eine exakte Zielgenauigkeit verspricht. Erneut irritiert die Namensgebung der Rakete: Die Bezeichnung „Hellfire“ (Höllenfeuer) verleiht der Waffe eine religiöse Konnotation und suggeriert, eine göttliche Strafe zu sein.

Dr. Harriet Zilch:  Oliver, in Deiner Ausstellung Blinde Passagiere sind auch einige Werke zu sehen, deren technische Vorbilder aus dem Bereich der Kriegsführung stammen und die beispielsweise Raketen referieren. Hat sich der Blick auf diese Werke für Dich verändert, jetzt wo wir mit einem grausamen Krieg in Europa konfrontiert sind und Rüstungsfragen die Nachrichten bestimmen?

Oliver van den Berg: Mein Kunstlager befindet sich auf einem Gelände, zu dem ein Hauptgebäude gehört, in dem seit Monaten ukrainische Flüchtlinge untergebracht sind. Es war schon sehr merkwürdig, als ich meine Arbeit Hellfire im vergangenen Jahr für eine Ausstellung in Berlin heraussuchte und in meinen Bus verladen habe. Da achtete ich darauf, dass diese Raketenattrappe niemand zu Gesicht bekam. Hellfire habe ich jedoch bereits 2008 für eine Ausstellung in Kooperation mit israelischen und palästinensischen Künstlern in einer arabischen Stadt in Israel, im Grenzgebiet zum Westjordanland, konzipiert. Die aktuelle Lage lässt dieses Thema brisanter und konkreter werden, und zugleich ist die Grausamkeit jetzt sichtbarer als sonst. Doch was wir vom Krieg zu sehen, zu hören und zu lesen bekommen, entscheiden diejenigen, die die Medien beherrschen. Die Fragwürdigkeit der Informationen und der Wahrheit gehörte schon immer zum Krieg dazu. Das ist jetzt nicht anders. Die Golfkriege waren medial ähnlich präsent. Krieg wird die ganze Zeit geführt. Also, nein, der Blick auf meine Arbeiten mit Vorbildern aus dem Bereich der Kriegsführung hat sich durch die aktuelle Lage nicht verändert, ist aber prägnanter geworden.

Die Werkgruppe der Stoßzähne (2016) unterscheidet sich von vielen anderen Werken Oliver van den Bergs, auch weil ein futuristisch-technoider Kontext fehlt und organische Formen in seinem Werk nur selten zu finden sind. Dennoch ist die Serie der Stoßzähne eng verwandt mit der Installation Mikros: Die Anzahl der Einzelobjekte ist im Prinzip unbegrenzt und zugleich sind die Einzelobjekte alle unterschiedlich und haben doch dieselbe Bezeichnung. Jedes Einzelobjekt ist entbehrlich für die Gesamtinstallation und zugleich einzigartig. Bei den Stoßzähnen kommt die große optische Nähe des verwendeten Fichtenholzes zu der Vorlage aus Elfenbein hinzu.

Dr. Harriet Zilch:  Deine Werkgruppe der Stoßzähne unterscheidet sich von vielen anderen Deiner Werke. Kannst Du uns Deinen
Ansatz bei dieser Werkgruppe erläutern?

Oliver van den Berg: Ausgangsmoment war ein Zeitungsfoto aus Afrika, auf dem die Polizei einen Schmugglerfund von Elfenbein auf der
Straße präsentiert und somit förmlich ausstellt. Da lagen hunderte von Stoßzähnen, die alle gleich und doch verschieden
waren – also mein Thema par excellence. Die Arbeit an den Stoßzähnen und die Variationen bei den Parametern
Länge, Durchmesser, Ovalheit des Querschnitts, Biegegrad sowie Proportion, thematisiert auch meine Vorstellung von
einem Elefantenstoßzahn. Ab welcher Formgebung entsteht eine Überformung, die den Stoßzahn nicht mehr als
Stoßzahn erscheinen lässt? Keiner meiner hergestellten Objekte ist einem echten Elefantenstoßzahn wirklich nachgebaut.
Neben den formalen Qualitäten ist die Bedeutung dieses Objektes natürlich wichtig. So ein Stoßzahn
ist ein archaisches Ding, das mich berührt. Die Form ist einfach und komplex zugleich. Ein gewaltsam vom
Tier abgelöster Stoßzahn ist ein Gedenken an das Tier, an das Wesen, an die Spezies, an den Tod.

Ein sogenannter Green Screen ermöglicht das Spiel mit der Illusion: Beim Videodreh agieren die Darsteller*innen vor dem einfarbigen Hintergrund. In der Postproduktion wird die grüne Farbe digital entfernt, und die Szene kann in einen beliebigen Hintergrund montiert werden. Set (2010) ist eine Installation, die auf der Nachbildung einer Filmset-Ausrüstung basiert: Scheinwerfer, Stative, Kameras, Reflexionsrahmen und ein gigantischer Green Screen verdichten sich im Ausstellungsraum zu einer Art doppelten Kulisse, da die technischen Bestandteile in der Installation erneut aus Holz hergestellt wurden. Das skulpturale Equipment steht nun selbst im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wird zum Akteur. Als Ausstellungsbesucher*in werden wir selbst zu einem Bestandteil der Szene und befinden uns in einer detailliert ausgearbeiteten skulpturalen Illusion.

Die Arbeit Leuchtkästen (We All Win, But In Time!) (2004) zeigt zwei maßstabsgetreu, jedoch aus Holz nachgebaute Leuchtkästen. Auch die parallel angeordneten Neonröhren sind aus Holz gefertigt und werden somit niemals leuchten. Als Vorlage für den auf der Wand aufgebrachten Schriftzug „We All Win, But In Time!“ diente das Foto eines Graffitis auf einer Hauswand in Berlin. Jeder Versuch einer sinnstiftenden Übersetzung scheitert. So steht auch dieser Satz, der
im Deutschen so viel wie „Wir gewinnen alle, aber rechtzeitig!“ bedeuten mag, für eine nicht greifbare Verheißung.

Verwandt erscheint die zweiteilige Arbeit Einziges Wertkriterium (Leuchtkästen) (2014). Der zitierte Hinweis „einziges Wertkriterium ist der Preis“ ist öffentlichen Ausschreibungsunterlagen entnommen, die die Vergabe von Aufträgen an Unternehmen regeln. Er besagt, dass immer der günstigste Anbieter einer Leistung beauftragt werden muss. Eine besondere Ironie entfaltet dieser Satz, wenn er gedanklich mit dem Kunstkontext verknüpft wird. Dann provoziert die Aussage die unendlich komplexe Frage nach dem Wert von Kunst, ihrem Material-, Markt- sowie Kunstwert. Denn für die künstlerische Qualität und Relevanz eines Kunstwerkes existieren kaum objektivierbare Wertkriterien.

Auch die gigantische Krone (2004), die den Ausstellungsraum in zwei Teile trennt, scheint für ein Versprechen zu stehen, welches sich nicht erfüllt. Das Vorbild, eine zweidimensionale Werbegrafik, hat Oliver van den Berg auf dem Schaufenster eines Spielsalons entdeckt und fotografisch festgehalten. Der Künstler verknüpft die Krone und das Glücksversprechen, das diese zu verkörpern scheint, mit einer bewusst rüden Holzkonstruktion und einem Spiel mit dem Kulissenhaften. Blicken wir auf die Vorderseite, so scheint die farbenfrohe Krone ihr Versprechen erfüllen zu können. Blicken wir jedoch hinter die Fassade, löst sich die Illusion unmittelbar auf.

Auch die Skulptur Spielhölle (2003) basiert auf einer Werbegrafik: Auf dem Schaufenster einer Spielothek visualisierte die Spannungskurve die energetische Atmosphäre. Oliver van den Berg hat diese Kurve auf Aluminiumblech übertragen und zusammengebogen und daraus eine kronenartige, mit ihren farbigen Abstufungen an die Höhenflüge und Talfahrten einer Aktienkurve erinnernde Form geschaffen. Diese verleiht der Idee des Strom- und Geldkreislaufs eine haptische Form, die beides ist: konkret und abstrakt zugleich.

Der Baum, den Oliver van den Berg in seiner Skulptur Fletschenbaum 2 (2015) als Aluminiumguss realisiert hat, besitzt kein reales Vorbild, sondern setzt sich aus dutzenden Astgabeln zusammen, die vom Künstler wiederum real gefunden und nachgebildet wurden. In jeder Astgabel wurde eine Steinschleuder befestigt, in ihrer Größe der jeweiligen Aststärke angepasst. Die Steinschleuder, auch Fletsche oder Zwille genannt, gehört wohl zu den ältesten Waffen der Menschheitsgeschichte. Schon immer wurde zu ihrer Herstellung eine Astgabel genutzt, sodass jede Steinschleuder stets das Grundelement eines Baums zitiert. Oliver van den Berg wählt für seine Skulptur eine Materialität, die in ihrer Künstlichkeit im Widerspruch zur Natur steht. Entstanden ist eine Skulptur, die die Schönheit der Natur mit etwas potenziell Gewaltsamen verbindet.

Ein mechanischer Apparat dreht einen grünen Leuchtstab im Kreis. Die Geschwindigkeit des Drehens ist sichtbar und nachvollziehbar und wird subjektiv als langsam oder auch schnell wahrgenommen. Bei längerer Betrachtung kann die Bewegung im dunklen Raum eine nahezu hypnotische Wirkung entwickeln. Optisch an eine grüne Radaranzeige erinnernd, weist die Lichtinstallation Linie größter Vergangenheit und Zukunft (Radar) (2014) jedoch keinerlei Funktion auf. Ist es Aufgabe eines Radars, über elektromagnetische Wellen Objekte aufzuspüren, die für den Menschen nicht sichtbar sind, so visualisiert die Installation von Oliver van den Berg mittels Form, Licht und Farbe das Vergehen der Zeit.

Die Skulptur Sonnenprobe (Schutzschild) (2018) bezieht sich in ihrer Form auf den Schutzschild der 2018 gestarteten Raumsonde Parker Solar Probe der NASA, die die Sonne, vor allem ihre äußerste Atmosphärenschicht, die Korona, erforschen soll. Die Raumsonde startete am 12. August 2018 und soll am 24. Dezember 2024 erstmals ihren sonnennächsten Punkt erreichen. Der Schild schützt die Sonde vor der Sonnenhitze und gewährleistet so das Überleben der Sonde. Zugleich markiert er eine Art Grenze und ist Voraussetzung, um jenseits dieser Grenze etwas wahrnehmen zu können. Eine paradoxe Situation: Um die Sonne beobachten zu können, müssen zunächst deren zerstörerische Kräfte abgewehrt werden. Zwei sternenförmige Aussparungen dynamisieren die Oberfläche der Skulptur. Sie suggerieren Löcher, die beim Ausgießen des Aluminiums entstanden sind. Das Material scheint ausgehärtet, bevor sich die beiden Löcher geschlossen haben. Die Funktion als Schutzschild ist somit obsolet. Wer oder was zu schützen ist, ist nun verwundbar. Zugleich wirkt die spiegelnde Skulptur Sonnenprobe (Schutzschild) wie ein seltsames Artefakt, welches irgendwo gefunden und in den
Ausstellungsraum gestellt wurde.

Der gigantische Sternenprojektor (2005) ist das Abbild eines Gerätes, das in Planetarien genutzt wird, um den Sternenhimmel aus der Erdperspektive darzustellen. Die Skulptur aus Birkenschichtholz ähnelt in ihrer äußeren Form dem Großplanetariumsprojektor Cosmorama der Firma Zeiss aus Jena. Mit seiner Skulptur, die als Hohlkörper gestaltet ist, kehrt Oliver van den Berg die ursprüngliche Funktionsweise des Projektors um: Statt von innen nach außen fällt das Licht in das Gerät hinein. Die innere Form ist hohl und bietet Einblicke durch die Öffnungen, durch die im Original das Licht (und damit die Illusion des Sternenhimmels) in die Kuppel des Planetariums projiziert wird. So repräsentiert die Skulptur auch die Funktion des Projektors: Als Speichermedium birgt er das Wissen über den Sternenhimmel und bildet dieses zugleich ab. Als Nachbau wird der Sternenprojektor zu einem eindrucksvollen Körper im Raum, dessen skulpturale Qualität in den Fokus tritt. Statt als Bildprojektor zu dienen, ist er nun selbst Abbild und Gegenstand der Betrachtung.

Die kleine Erde (2016) aus Aluminiumguss setzt im letzten Ausstellungsraum einen Schlusspunkt. Sie erinnert formal an die Knitterwelten und verweist zurück auf den Anfang der Ausstellung.

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