Bis die Zeit vergeht: Bereits der Ausstellungstitel, der eine Verszeile aus dem Song Déjà Vu der 1980er-Jahre-Band Spliff zitiert, zeigt: Das komplexe Phänomen Zeit ist ein zentraler Aspekt im Werk der Künstlerin Alex Müller (*1969 in Düren; lebt und arbeitet in Berlin und in der Uckermark). Immer wieder findet sie eindrückliche Bildäquivalente für die Zeit, für ihr Voranschreiten ebenso wie für ihre Relativität.

Für die Kunsthalle Nürnberg hat Alex Müller aus biografischen Anspielungen, kulturellen Verweisen und kunsthistorischen Bezügen eine inhaltlich wie ästhetisch abwechslungsreiche Ausstellung entwickelt. Mannigfaltige Materialien und Fundstücke werden zu einem komplexen Geflecht verwoben. Dabei geben die acht Oberlichtsäle der Kunsthalle Nürnberg eine Struktur für eine mäandernde Erzählung in acht Kapiteln. Alex Müller benennt die acht Räume nach Orten und damit nach zentralen Stationen in ihrem Leben: vom Dorf Huchem-Stammeln bei Düren über Los Angeles und Carcassonne bis zum Berliner Stadtteil Neukölln, dem heutigen Wohnort der Künstlerin.
Immer tiefer tauchen wir in den Kosmos von Alex Müller ein, der durch seine eigene Gesetzmäßigkeit und Motivik definiert ist. Uns begegnen Hände, Hüte, Besen und das Haus vom Nikolaus. Messer, Gabel, Löffel und die Fünf als kompakte Strichliste. Mohnsamen, Erbsen, Stiefel, Vorhangringe, Hände und Füße: All diese Motive erhalten im Werk von Alex Müller eine spezifische Aufladung ebenso wie jegliches Material in ihrem gattungsübergreifenden OEuvre zum künstlerischen Werkstoff werden kann. Denn die narrative Offenheit ihrer Arbeiten verstärkt die Künstlerin durch ein kluges Spiel mit den Grenzverläufen zwischen Malerei, Zeichnung, Bildhauerei, Installation, Film, Sound und Performance. Eindeutige Abgrenzungen und Zuordnungen, inhaltlich wie medial, werden aufgehoben und der bildnerische Kosmos öffnet sich zu einem weiten Experimentierfeld.

Zur Ausstellung Alex Müller. Bis die Zeit vergeht ist im Verlag Kettler eine umfassende Werkmonografie erschienen. Mit Texten von Shannon Bool, Dominic Eichler, Dr. Marietta Franke, Kalin Lindena, Alex Müller, Dr. Sasha Rossman und Dr. Harriet Zilch geben die Textbeiträge gerade in ihrer Unterschiedlichkeit einen eindrücklichen Einblick in das Leben und Werk der Künstlerin (Deutsch/Englisch, ISBN 978-3-98741-069-7, 45 Euro).

Es ist Küchenpsychologie, dass ein Kunstwerk immer auch eine autobiografische Äußerung beinhaltet. Wie soll es auch anders sein? Wie soll losgelöst vom eigenen Sein und den individuellen Erfahrungen und Prägungen ein künstlerisches Werk entstehen? Im OEuvre von Alex Müller ist die Auseinandersetzung mit der eigenen Identität jedoch ein zentraler Punkt jeder künstlerischen Äußerung. Keineswegs dient dieser Prozess einer narzisstischen Selbstspiegelung, sondern er repräsentiert die immerwährende Suche nach dem Ich ebenso wie eine vielschichtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit wie der eigenen Vergänglichkeit.

Der erste Ausstellungsraum ist nach dem Dorf Huchem-Stammeln bei Düren benannt, in dem die Künstlerin ihre ersten Lebensjahre verbrachte. Begrüßt werden wir beim Eintritt in die Kunsthalle Nürnberg von der Soundinstallation Mitternacht (2023), die das Mitternachtsgeläut von San Marco in Venedig erklingen lässt. Das anschließende Knacken und Rauschen wird durch das Wasser hervorgerufen, das in der Lagunenstadt an die Mauern der Kanäle schwappt. Für Alex Müller markiert das Geläut auch den Eintritt in eine alternative Welt: Die Außenwelt wird zurückgelassen, und wir tauchen in einen Kosmos ein, der durch seine eigenen Gesetze definiert ist.

An den Wänden reihen sich auch einige Bildnisse, zumeist Brustbilder, wie eine Ahnengalerie auf: Sunny (2013), Sahara (2013), Der Herr von Port Canonga (2014) oder auch Das Flüstern des Sekretärs (2013). Der titelgebende Sekretär, ein Greifvogel, der weite Teile des afrikanischen Kontinents südlich der Sahara bewohnt, scheint der Protagonistin Geheimnisse einzuflüstern. Offenkundig handelt es sich bei den Bildnissen nicht um das Abbild einer individuellen Physiognomie, sondern um fiktive, geheimnisvoll erscheinende Gestalten. Dieser Eindruck wird durch die Maltechnik befördert: Die verwendete Tusche liegt nicht auf der Leinwand, sondern durchtränkt den nicht grundierten und somit saugfähigen Bildträger. Die Figuren materialisieren sich nicht, sondern bleiben seltsam vage. Die vielfach poetischen Werktitel haben häufig einen Bezug zur Biografie der Künstlerin. Hier finden sich Namen von Verwandten und Freund*innen, von Held*innen aus ihrer Kindheit und Jugend, Verweise auf geliebte Bücher, Filme oder Songs sowie auf Ereignisse und Emotionen aus der Vergangenheit.

 

Der Raum wird von einem monolithischen Block dominiert, der die Blickachse wie den Laufweg versperrt. Die für die Ausstellung entstandene Skulptur Ich habe den Senf in der Hand (2023) weist zwei Ausschnitte auf, in denen jeweils eine Skulptur in Form zweier ineinandergesteckter Reitstiefel platziert wurde. Die Pferderuh 1 (2017) ist mit grünen Erbsen, Die Pferderuh 2 (2017) mit schwarzen Mohnsamen bedeckt. Sowohl für den Schaumstoffblock als auch für die Stiefel, die zu den wiederkehrenden Metaphern im Werk der Künstlerin gehören, existiert eine biografische Lesbarkeit: In ihrer Kindheit, zwischen 1971 und 1983, reiste die Künstlerin jeden Sommer zu den Großeltern, die in Wilhelmsruh lebten, einem dörflichen Stadtteil, der zum Bezirk Pankow in Ostberlin gehört.

Bis zum Fall der Berliner Mauer war Wilhelmsruh eine isolierte Enklave, da das dreieckige Stück Land größtenteils von der Mauer umgeben war. Der Großvater hatte durch eine Landmine im Zweiten Weltkrieg einen Teil seines Beins verloren. Alex Müller erinnert sich: Er sprach nie über den Krieg, und er ging nie wieder schwimmen. Er schämte sich. Er blieb am Ufer des Sees, behielt seine Hosen an und sah uns zu. Zu Hause saß er auf der Bettkante, die Prothese am Stuhl gegenüber angelehnt, und sagte: „Kommst mir mal helfen und bindest mir die Prothese fest.“ Unter dem rechten Knie fehlte der Rest vom Bein. Ich habe immer all meine Kraft zusammengenommen, damit die Prothese gut und richtig saß. [...] Eine seiner Lieblingsbeschäftigungen war, mich zum Schuhe putzen in seinen Kohlenkeller mitzunehmen. Er saß immer auf einem Schemel rechts von mir und meinte: „Da musste gut drauf spucken und ordentlich Schuhcreme nehmen, dann glänzen sie!“

Die titelgebende Skulptur Bis die Zeit vergeht (2003/23) zeigt eine am Boden sitzende Gestalt, die sich aus einer grün glasierten Maske und einer mit unzähligen Spiegelscherben beklebten Hose zusammensetzt. Die Jeans, die als Trägermaterial verwendet wurde, war die Atelierhose, die die Künstlerin während ihres Studiums an der Akademie der Bildenden Künste Braunschweig trug. Auch diese Hose ist eine Metapher für die Zeit, sie repräsentiert einen für die Künstlerin wichtigen Lebensabschnitt.

Im zweiten Ausstellungsraum und ebenso im Großen Saal der Kunsthalle Nürnberg wurde unterhalb der Oberlichter eine Bahn aus Leinenstoff gehängt. Der Stoff für die Installation Der Zeitenkuss 1 und 2 (2023) lag über Monate, mit Backsteinen beschwert, im Garten in Mellenau in der Uckermark, wo die Künstlerin ein Haus besitzt. Er zeigt Vergilbungen durch das Sonnenlicht, Verfärbungen und zeichnerische Strukturen, die durch die aufgelegten Backsteine und Holzstücke entstanden sind. All diese Spuren transportieren als eine Art Speicher eine eigene Aura und Zeitlichkeit.

Birkesdorf zeigt darüber hinaus eine Serie gepolsterter Bilder, die Alex Müller Endlich Dick (2023) nennt: Endlich Dick 2 hängt flach auf der Wand, erscheint jedoch aufgrund seiner Polsterung reliefhaft. Endlich Dick 3 und Endlich Dick 4 sind an der Wand montiert, öffnen sich aber durch ein Scharnier wie ein Fenster oder eine Tür in den Raum hinein. Endlich Dick 1 und Endlich Dick 5 stehen auf mobilen Podesten frei im Raum. Sie stehen uns im Weg, so dass wir eingeladen sind, sie wie Skulpturen zu umrunden. Außer Endlich Dick 2 können alle Bilder von zwei Seiten betrachtet werden: Eine Seite zeigt zumeist rätselhafte Gestalten, teils ergänzt durch Attribute, beispielsweise einen Besen, die für den Motivkanon von Alex Müller charakteristisch sind. Für die Künstlerin besitzen diese Werke keine Vorder- oder Rückseite, da sie beide Ansichten gleichwertig sieht. Durch den Produktionsprozess ist eine der Seiten abstrakter, die Nähte erscheinen wie eine Zeichnung und die Materialität der verwendeten Stoffe gewinnt eine besondere Wirkung. Die Polsterung verleiht allen fünf Bildwerken ein beträchtliches Volumen, so dass sich diese zwischen Malerei, Relief und Skulptur bewegen.

Die Werkserie Endlich Dick basiert auf früheren Arbeiten: In die textilen Bildträger von Frau Müller im Central Parc, Die Chodils unterwegs sowie Die schlafende Gretel (alle 2013) wurden Stoffstreifen eingewebt, so dass die Bilder eine ausgeprägte Struktur erhalten. Für Alex Müller sind diese Werke auch eine Auseinandersetzung mit dem Prinzip des Scheiterns. Aus verschiedenen Gemälden, die sich für die Künstlerin als nicht tragfähig erwiesen haben und somit ihr Atelier nie verlassen haben, ist etwas Neues entstanden. Alex Müller begreift den Moment des Scheiterns nur als temporäre Situation, aus der sich neue Möglichkeiten ergeben.

Der Ausstellungsraum Los Angeles zeigt großformatige figürliche Malereien auf Baumwolle wie auf Papier. Die überlebensgroßen Figuren auf den Arbeiten Eva mit neuem Kleid (Feuer) (2014), Schenk mir einen Namen (2012) sowie Cassiopeia (2011) wirken wie Wächterfiguren und entwickeln im Raum eine eindrückliche Präsenz.

Die vor Ort entstandenen Wandzeichnungen mit Mohnsamen spiegeln die Türen und Lüftungsgitter des Ausstellungsraums auf die jeweils gegenüberliegende Wand und greifen damit bauliche Details der Kunsthalle Nürnberg auf. Die vertikale Lineatur der Wandzeichnung Ringing the Bell 1 (2023) nimmt Bezug auf die Arbeit Schenk mir einen Namen. Die zweite Zeichnung Ringing the Bell 2 (2023) greift die florale, organisch erscheinende Struktur des Gemäldes Cassiopeia auf. Die Vorstellung von Portalen in eine andere Welt, gar mit Türklinken aus organisch erscheinenden Keramikspiralen, entsteht.

In ihrer Struktur erinnern die Objekte auch an Finger, die die Klinken umschließen. Die Illusion imaginärer Räume und einer Welt jenseits der Türen erinnert an die Erzählung von Alice in Wunderland, in der der Sturz durch einen Kaninchenbau für Alice eine märchenhafte Welt bereithält. Als Material besitzen Mohnsamen eine besondere Bedeutung im Werk von Alex Müller: Sie repräsentieren die Kindheitserinnerung an die von der Großmutter gebackenen Mohnzöpfe und sind für die Künstlerin zugleich, wie auch die wiederkehrenden Erbsen, ein Symbol für die Unendlichkeit. Technisch handelt es sich bei den Arbeiten um eine Art „Blindzeichnung“: Die Künstlerin zeichnet mit transparentem Klebstoff direkt auf die Wand und wirft die Mohnsamen auf die Klebstoffspuren. Teils rieselt der Samen auf den Boden herab, teils bleibt er auf dem Kleber haften. Erst in diesem Moment wird die Lineatur sichtbar.

Der vierte Ausstellungsraum ist nach dem Ortsteil Gey benannt, der zur Gemeinde Hürtgenwald an der Grenze zum Nationalpark Eifel südlich von Düren gehört. Zu sehen sind organisch wirkende Gemälde, die Alex Müller mit Wein und Kaffee gemalt hat. Die Bilder zeigen ein Wirrwarr aus Händen, Bäumen und Wirbeln, die in die Bildflächen reichen. Das mit Kaffee gemalte Werk Zu Fuß im Wald (2019) lässt uns in einen Kiefernwald blicken. Hinter den Bäumen schauen Gruppen von Zehen – oder nackte Füße – in unterschiedliche Richtungen weisend hervor. Eine Schnur mit Vorhangringen, die am oberen Bildrand gespannt ist, erweckt den Eindruck, dass wir die Szene durch einen nebligen Schleier betrachten. Es gibt keinen eindeutigen Pfad durch diesen Wald, nur Auswahlmöglichkeiten, die so wenig richtungsweisend sind wie die Füße, die überall auf der Lichtung hervorlugen. Auch auf den Werken Erinnere Dich der Schritt ist lang, Herr Alexander zu Besuch und Die vier Musterschüler (alle 2019) zeigen sich Hände und Beine isoliert vom Rest der Körper. Manchmal erscheinen diese in ihrer Fragmentierung seltsam skurril, manchmal jedoch auch einladend und protektiv.

Erbsen und Mohn, Kaffee und Rotwein: Immer wieder malt und arbeitet Alex Müller mit ungewöhnlichen Mitteln. Auch Fundstücke wie Briefkastendeckel, Taue, Kissen oder Vorhangringe aus Porzellan verwendet die Künstlerin für ihre unkonventionellen Skulpturen und Installationen. Kaffee und Rotwein besitzen für Alex Müller zudem eine zeitliche Dimension, da sie als Repräsentanten eines Tagesablaufs gedeutet werden können: der Kaffee, den wir gewöhnlich morgens trinken und mit diesem Ritual den Tag begrüßen; der Rotwein, den wir am Abend trinken, um den Tag abzuschließen und seine Ereignisse zu reflektieren. Auf den Abend folgt die Nacht und damit der Schlaf: Alex Müller zeigt ihre frühe Videoarbeit Gesundheit (2001). Mit einer VHS-Kamera zeichnete die Künstlerin während ihres Studiums an der Akademie der Bildenden Künste Braunschweig ihren Schlaf auf. Das Video ruft eine seltsame Intimität hervor, die wohl immer entsteht, wenn wir Menschen im Schlaf beobachten, ein Zustand, in dem wir schutzlos sind und unsere Rollen ablegen.

Auch die Arbeit Pico Ruivo Hurra (2001) ist bereits während der Akademiezeit der Künstlerin entstanden. Nach einer Besteigung des Pico Ruivos, dem höchsten Berg auf Madeira, begann Alex Müller eine Schnur in der Länge von 1862 Metern zu häkeln. Aufgewickelt zu einem überdimensionierten Wollknäuel repräsentiert die Schnur die Höhe des Berges und ebenso die persönliche Erinnerung an die Wanderung.
 

Der über uns installierte Schirm Die neuen Os für Martha (2007/08) steht für ein Spiel, das Alex Müller immer wieder aufgreift. Ihre Heroen und Wegbegleiter*innen erhalten als eine Art Hommage eine neue Namensgebung: Nach der Umbenennung enden ihre Namen stets mit der Silbe „-os“. Alle Namen auf den acht Schirmsegmenten stehen für eine geschätzte Person, vom Autor Paul Auster über den Künstler Francisco de Goya zur Sängerin Kate Bush und dem Regisseur Jacques Tati. Eine Wortschöpfung nach gleichem Prinzip begegnet uns auch im folgenden Raum, dem großen Saal der Kunsthalle Nürnberg. Die Wandinstallation Buthos darf nicht fehlen (2008) ist eine Hommage an den von Alex Müller sehr verehrten Künstler Michael Buthe (1944–1994). Für ihn hat sie eine Geheimschrift entwickelt und das hölzerne Brett mit seiner Biografie beschrieben.

Bis die Zeit vergeht: Im großen Saal der Kunsthalle Nürnberg hat die Künstlerin eine Art „Bauerngarten“ eingerichtet: Rollrasen bedeckt nun den Saalboden, Pfade durch die Grünfläche definieren die Laufwege zu den Gemälden an den Wänden. Saftig und grün wird der Rasen jedoch nur wenige Tage sein. Über die Laufzeit der Ausstellung wird er welken und zu einer raumfüllenden, olfaktorischen Metapher für die Vergänglichkeit werden.
Verteilt auf dem Rasen finden sich Einmachgläser mit Schraubdeckeln. Die aufgeklebten Etiketten zeigen 526 Werktitel und Datierungen. Die Gläser sind Relikte der Performance Alles 526, die am 23. Juni 2023, dem Eröffnungsabend der Ausstellung, stattfand. In Vorbereitung ihrer Ausstellung hat Alex Müller alle Arbeiten gezählt, die in ihrer künstlerischen Laufbahn bis heute entstanden sind. Zwei weißgekleidete Performerinnen, mintgrüne Baseballkappen tragend, waren in die Aufgabe vertieft, die Titel der 526 Werke zu verlesen, die Gläser mit den Etiketten zu bekleben und sie nach Belieben auf dem Rasen zu platzieren. Diese Geste erinnerte an eine Art „Opfergabe“: Alle Arbeiten, die potenziell Teil dieser Ausstellung hätten seien können, sind durch die Performance und ihre materiellen Stellvertreter dauerhaft präsent.

Auch die Gemälde an der Wand thematisieren auf die eine oder andere Weise Zeit und Vergänglichkeit. Bei den beiden großen Triptychen Gestern, Heute, Morgen sowie Morgens, Mittags, Abends (beide 2023) ist dies bereits aus den Titeln herauszulesen: So scheint Morgens, Mittags, Abends einen Tagesablauf vom Morgen bis zum Abend wiederzugeben.
Das linke Bild zeigt ein diagonal ins Bild gesetztes Bett, in dem eine junge Frau liegt, von der nur der Kopf mit braunen, halblangen Haaren und geöffneten Augen zu sehen ist. Wahrscheinlich ist sie gerade aufgewacht und blickt im Zimmer herum, schaut an die Decke oder auf die Gardinenstange.

Das „Gardinenringe zählen“ ist ein wiederkehrendes Motiv in der Malerei von Alex Müller, welches sich bereits bei dem monolithischen Block im ersten Ausstellungsraum und in Bildern wie Das Weilen mit der Honigbrise (2019) oder Das Lied der Erinnerung (2023) zeigt. Auch dieses Bildmotiv basiert auf einer Kindheitserinnerung der Künstlerin: das Zählen der Gardinenringe in ihrem Kinderzimmer diente ihr als Einschlafritual. Dazu Alex Müller: Ich möchte, dass meine Arbeit einen Moment der Transzendenz hat, dass sie für andere Menschen zu ihren eigenen Bedingungen zugänglich ist. Es gibt zum Beispiel Dinge – wie die Prothese meines Großvaters –, die meine Fantasie beschäftigen, aber ich habe keine Lust, darüber Kunst zu machen. Aber ich merke immer mehr, dass viele der Materialien und Bilder, die mich jetzt interessieren, mit intensiven Kindheitserfahrungen verbunden sind.

Zur Rechten wie zur Linken der Figur liegen zwei Besen im Bett. Auch der Besen begegnet uns wiederholt, auch als kunsthistorisches Zitat, da Alex Müller immer wieder einen konkreten Besen des französischen Künstlers Grandville (1803–1847) zitiert. Die Tätigkeit des Kehrens ist für die Künstlerin jedoch weniger ein Reinigungsvorgang, als ein kontemplativer Moment, der einen Prozess abschließt und reflektiert. Diese Assoziation basiert auf ihren Erfahrungen an der Kunstakademie: Hier bestand der Abschluss jedes Tages darin, das Atelier auszukehren und damit das Tagwerk zu beendet.

Das Bommelportrait (2008) ist aus zwei gefundenen Kästen zusammengesetzt, die durch ihre fleischliche Farbigkeit eine seltsame Körperlichkeit bekommen. Solche Kästen hingen früher häufig in den Eingängen von Mehrfamilienhäusern. Hier waren Kellerschlüssel deponiert, der Name des Hausmeisters angegeben und, zu einer Zeit als noch nicht jede Wohnung eine eigene Klingel hatte, waren auch die Namen der Hausbewohner*innen Etage für Etage wiedergeben. In einem der Holzkästen zeigt sich ein weißer Vorhang mit der Aufschrift „Madame Les Deux Tiers“: Diese „Frau Zweidrittel“ repräsentiert die Künstlerin selbst, die, nach eigener Aussage, nun rund Zweidrittel ihrer voraussichtlichen Lebenszeit gelebt hat.

Das Westliche Ringgebiet ist ein Stadtbezirk von Braunschweig, der Stadt, in der die Künstlerin die Akademie der Bildenden Künste besuchte. Erneut sehen wir eine Zeichnung auf den Wänden, die ein bauliches Detail der Ausstellungsräume zitiert. Es sind die Fugen der Bodenfliesen, die Alex Müller als Lineatur auf die Wände übertragen und mit Mohnsamen nachgebildet hat.
Neben amorphen Objekten aus Porzellan und Keramik, teils glasiert, teils mit Mohnsamen bedeckt, zeigt sich die Arbeit Die Zartheit des Täglichen (2015/23): Über acht Jahre hat die Künstlerin Seifenreste gesammelt, die auch heute noch ihren charakteristischen Geruch verströmen. Für die zusammengetragenen Reste hat Alex Müller aus Rohseide ein edles Etui genäht, das die Seifenstücke nun wie bunte Edelsteine präsentiert. Verwandt erscheint die sechsteilige Arbeit Die Köstlichkeit vollendet (2015/23). Die über den gleichen Zeitraum gesammelten Puderdosen haben nun ein zweites Leben als spiegelnde Objektträger für kleine organische Porzellanarbeiten.

Der Raum Mellenau ist nach dem Ort in der Uckermark benannt, in dem Alex Müller neben Berlin lebt und arbeitet.
Der Ausstellungsraum ist durch einen wandfüllenden Zeichnungsblock geprägt. Auf den 24 Blättern, gezeichnet zumeist mit Acryl auf einfaches Alltagspapier, begegnen uns märchenhafte Gestalten und mysteriöse Tiere, der in Wolken gehüllte Schriftzug „ERDE“, Bühnenszenen, isolierte Hände und Beine oder auch erneut ein Reitstiefel.
Links neben dem Gemälde Das Landmaschinentheater (2015), welches eine Figur zeigt, die jonglierend versucht, die Balance zu halten, findet sich die Porzellanarbeit Keiner da beim Nikolaus (2015): eine Rahmung aus Porzellan mit organischen Verzierungen wurde durch eine einfache Bleistiftzeichnung zu einem „Haus vom Nikolaus“ erweitert. Wir alle teilen wohl die Erinnerung an dieses kindliche Zeichenspiel, dessen Ziel es ist, ein Haus in einem Linienzug aus genau acht Strecken zu zeichnen, ohne eine Strecke zweimal zu durchlaufen.

Der Raum Neukölln benannt nach dem Stadtteil Berlins, in dem die Künstlerin heute lebt, schließt den Rundgang durch die acht Gedächtniskammern der Kunsthalle Nürnberg ab. Begrüßt werden wir durch den von Alex Müller geschriebenen und verlesenen Text Für Bert oder nach dem Mähen (2023).
Auf den Wänden zeigt sich die Installation Das erste Jahr 1969 (2023), ein Fries bestehend aus 354 Besteckteilen. Messer, Gabel und Löffel wurden von der Künstlerin zusammengetragen und einzeln mit Papier umwickelt bis eine nahezu porzellanhafte Oberfläche entstand. Jedes Besteckteil wurde mit einer filigranen blauen Fineliner-
Zeichnung versehen und aus jeweils fünf Elementen wurde eine kompakte Strichliste gebildet. Der Fries repräsentiert das Geburtsjahr von Alex Müller, beginnend mit ihrem Geburtstag am 12. Januar bis zum Jahresende am 31. Dezember 1969. Jedes der 354 Besteckteile steht für einen Tag in diesem ersten Lebensjahr, das sich wie ein Zeitstrahl abschreiten lässt.

Zentral ist die Skulptur Frau Janner (2022), die auf den ersten Blick wie ein bemalter Globus erscheint, da Farbflecken und -flächen ineinanderfließen, die an Landmassen und Gewässer erinnern. Bei genauer Betrachtung zeigt sich, dass die Kugel zwei Gesichter aufweist, die in verschiedene Richtungen blicken. Es handelt sich um Abgüsse von Alex Müllers Gesicht. Frau Janner ist somit ein Selbstporträt. Die Künstlerin hat sich intensiv mit dem Konzept des Januskopfs beschäftigt: ein Kopf mit zwei Gesichtern als Symbol der Zwiespältigkeit. Zugleich ist der Kopf der Künstlerin eine Welt, und die Welt ist dieser Kopf.

Auf dem rot lackierten Tisch zeigen sich außerdem die Arbeiten Parure de Bile sowie Das Vertrauen mit Else (beide 2022). Neben Frau Janner hat die Künstlerin auch diese Werke im vergangenen Jahr in Berlin in einer riesigen Erdbeere aus Fiberglas gezeigt: Alex Müller und andere Künstlerinnen präsentierten eine Ausstellung in verschiedenen Erdbeerkiosken, die sie für Kunstinstallationen und als Miniausstellungsraum nutzten (Musée de la Fraise, 2022).

Der Tresen des Kiosks wird nun in Nürnberg erneut genutzt, um Objekte zu zeigen, die in enger Verbindung zur Künstlerin stehen. Wir sehen eine Kette aus Perlen, die in ihrer Form und Dimension einen Gallenstein zitieren, der Alex Müller operativ entfernt wurde. Der Schmerz verursachende Stein ist hier zu einem Erinnerungswert geworden, den wir als Kette, Ring oder Ohrschmuck tragen oder auch wie einen Rosenkranz durch die Finger gleiten lassen könnten.
Das Vertrauen mit Else ist eine Hommage an die Dichterin Else Lasker-Schüler (1869 –1945). Ein Foto aus dem Jahr 1912 zeigt die expressionistische Autorin auf einer Flöte spielend. Sich auf dieses Foto beziehend, hat Alex Müller ihren Mund, ihren Arm sowie ihre Altflöte abgegossen und die mit Papier überzogene Oberfläche mit den Textzeilen ihrer fünf Lieblingssongs von Nina Hagen, Kate Bush, David Bowie, den Tindersticks sowie den Chemical Brothers beschrieben.

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