Die Installationen der in Berlin lebenden Künstlerin Sung Tieu (*1987 in Hai Duong, Vietnam) kreisen um die Themen Migration und Identität, Bürokratie und deren Kontrollmechanismen.
Ihre für die Ausstellung One Thousand Times zusammengestellten Werke thematisieren ein in der deutschen Nachkriegsgeschichte bislang vernachlässigtes Kapitel: 1980 schlossen die DDR und die Sozialistische Republik Vietnam ein Abkommen zur Anwerbung vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen, die in den Volkseigenen Betrieben (VEB) der DDR eingesetzt werden sollten. Das sozialistische Nachkriegs-Vietnam profitierte von diesem Bündnis, da die Betriebe einen Teil des Bruttoeinkommens der Arbeiter*innen als „Hilfe zum Wiederaufbau des Landes“ direkt an den vietnamesischen Staat überwiesen. Die DDR fand auf diesem Weg Arbeitskräfte für Branchen mit personellen Engpässen. Rund 60.000 vietnamesische Arbeiter*innen kamen aufgrund dieses Vertrags in die DDR. Durch die Wiedervereinigung 1990 sahen sich diese Menschen mit einer ungewissen Zukunft konfrontiert, denn auch nach dem Einigungsvertrag zwischen der BRD und der DDR wurde den Arbeiter*innen lediglich ein Bleiberecht für die ursprünglich mit der DDR geschlossene Vertragslaufzeit zugesprochen.

Aufgrund ihrer Familiengeschichte - Sung Tieus Vater kam als vietnamesischer Vertragsarbeiter in die DDR - begann die Künstlerin, sich mit den soziopolitischen Auswirkungen dieses Abkommens zu beschäftigen. Ihre Ausstellung rückt die Plattenbausiedlung in der Gehrenseestraße 1 in Berlin in den Fokus, in der sie einen Teil ihrer Kindheit verbrachte.

Diese Siedlung, die neun Wohnblöcke umfasste, gehörte mit rund 1.000 Wohnungen zu den größten Wohnkomplexen für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in der DDR. Geplant wurde der Gebäudekomplex ab 1977 als ein Projekt des sozialen Wohnungsbaus. In den 1980er-Jahren wurden die Gebäude mit rund 1.000 Wohneinheiten zu einem der größten Wohnkomplexe für vietnamesische Vertrags­arbeiter*innen in der DDR umgebaut. Die einzelnen Einheiten waren ca. 14 Quadratmeter groß, es gab eine Gemeinschaftsküche und ein Bad pro Stockwerk. Die Hausbewohner*innen waren einer Hausordnung, Regulatorien und Überwachungsstrategien unterworfen, die nicht nur die auf dem Gelände erlaubten Aktivitäten kontrollierten, sondern auch den Kontakt zur einheimischen Bevölkerung einschränkten. Die Lebensbedingungen der Menschen standen im scharfen Kontrast zur Rhetorik sozialistischer Gleichheit und brüderlicher Zusammenarbeit.

Immer wieder stand die Gehrenseestraße, die nach dem Mauerfall zu einer Anlaufstelle für all diejenigen geworden war, die über ihre zeitlich begrenzte Aufenthaltserlaubnis hinaus in Deutschland bleiben wollten, in den 1990er-Jahren im Fokus des Medieninteresses. Die Wohnsiedlung verwandelte sich zu einem Ort, der einerseits Sicherheit und Gemeinschaftlichkeit bot, aber auch zur Zielscheibe der Aggression seitens der Ortsansässigen, der Nachbarn und der Polizei wurde. Sung Tieu kam  zusammen mit ihrer Mutter erst 1992 nach Deutschland, denn eine Familienzusammenführung war in dem Abkommen zwischen den beiden Bruderstaaten nicht vorgesehen. Von 1994 bis 1997 lebte sie mit ihrer Mutter in dem Wohnheim in der Gehrenseestraße 1.

Aktuell ist der Abriss des Gebäudekomplexes, der seit 2002 leer steht, in Planung, um auf dem 6,3 Hektar großen Grundstück ein neues Hochhausquartier zu errichten. Tieu verschränkt in ihren Werken ihre autobiografischen Erfahrungen mit den gesellschaftspolitischen und ökonomischen Entwicklungen, die sich in der Geschichte der Wohnsiedlung und der dort lebenden Menschen spiegelt. In ihren Werken überlagern sich Aspekte der Arbeit, der Regulierung von Wohnraum sowie der Kontrolle von Privatsphäre.

Die künstlerische Praxis von Sung Tieu beruht auf systematischer Archivarbeit. Zusammengetragene und methodisch erschlossene Archivalien werden mit Objekten, architektonischen Interventionen, Dokumenten, Videos und Sounds verwoben. So entstehen sorgsam inszenierte, atmosphärisch verdichtete Rauminstallationen mit prägnanter Bildsprache und vielfältigen Korrespondenzen. Trotz der umfassenden Themenkreise, welche abstrakte Systeme und komplexe Zusammenhänge thematisieren, kehrt die Ausstellung immer wieder zu einer persönlichen Perspektive zurück, welche die individuelle Erfahrung in den Vordergrund rückt.

Raum 1

"Concrete Philosophy" & "(Un)kraut", 2023

Auftakt zur Ausstellung bildet ein exakter Nachbau der eigenen vier Wände, die die Künstlerin zusammen mit ihrer Mutter und einer Freundin der Familie von 1994 bis 1997 im Block G der Gehrenseestraße 1 bewohnte. Die 2,60 Meter hohen Wände lehnen wie Modulbauteile fertig produziert an den Wänden des Ausstellungsraums. Sie bestehen nicht, wie die Originalwände, aus vorgefertigten Betonplatten, sondern wurden mit einer Holzkonstruktion und Gipsfaserplatten nachgebaut, auch als eine Referenz an standardisierte Museumswände. Mit einfacher Raufasertapete verkleidet und in einer handelsüblichen Wandfarbe gestrichen, könnten die Wandelemente potenziell zu einer ca. 14 m² großen Einraumwohnung zusammengesetzt werden. Sie stehen symbolisch für die Grundmodule des Plattenbautypus, wie er auch in der Gehrenseestraße realisiert wurde.

Im gleichen Raum sind fünf Schwarz-Weiss-Fotografien zu sehen, die die Künstlerin während der Recherche für ihre Ausstellung in Nürnberg auf dem verlassenen und von der Natur zurückeroberten Areal des Wohnkomplexes aufgenommen hat. Die Serie zeigt das „Unkraut“, das jetzt dort wuchert, und erzählt vom langsamen Zerfall der Architektur und dem Kreislauf der Natur.
„Unkraut“, ein Wort, welches für unerwünschte Pflanzen in Gärten und Parkanlagen verwendet wird, nutzt die Künstlerin als direkte Referenz. Die Fotografien muten dokumentarisch an und fokussieren ausschließlich die Pflanzen – ohne den Umraum zu zeigen. So wird die Monumentalität der Gebäude durch einen sensiblen Blick für Details dekonstruiert. Der Wildwuchs steht im Kontrast zur geometrisch strengen und rein funktionalen Konstruktionsweise der Wände. In ihrer Gegenüberstellung klingt an, dass das Leben in diesen standardisierten Bauten weit individueller und lebendiger war als politisch erwünscht.

Raum 2

"Made (By Vietnamese Workers) In The GDR", 2021 & "Date, Flight Number, Ministry ...", 2021

Was Bürokratie bedeuten kann, wird in einer Vielzahl von Dokumenten sichtbar, die sich Sung Tieu in ihren Recherchen künstlerisch angeeignet hat. Sie hat die originalen Dokumente aufwendig recherchiert, in en Archiven abfotografiert und diese im Anschluss transkribiert. Auf die Blätter stempelt sie in regelmäßigen Abständen Muster, die an Jägerzäune und Gardinen erinnern.

Bei dem großen Block aus insgesamt 67 Dokumenten handelt es sich um Fluglisten, die die vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen verzeichnen sowie die Betriebe, denen sie in der DDR zugewiesen wurden. Die Menschen sind nicht namentlich, sondern nur als Zahlen vermerkt, die als Variable zur Berechnung der Arbeitsleistung eingesetzt wurden. Die Bürokratie ist das Mittel, um diese Kalkulation zum Erfolg zu führen, wie der Philosoph Zygmunt Bauman beschreibt: „Das Handeln jedes Einzelnen muss völlig unpersönlich sein, ja, es sollte sich überhaupt nicht an Personen orientieren, sondern an den Regeln, die das Verfahren bestimmen. Diese Art von Maßnahmen, die durch die kodifizierte Basis von Regeln geleitet werden, werden als prozessuale Rationalität bezeichnet. Was zählt, ist die genaue Einhaltung des Verfahrens.“ In der Ausstellung finden sich viele dieser Dokumente, die den Versuch der DDR belegen, ihr Staatswesen zu optimieren. In diesen Listen, Satzungen, Regelwerken wird deutlich, was Bürokratie bedeutet.

Sung Tieu stellt dieser Rationalität ein Produkt aus dem VEB Henneberg Porzellan Ilmenau gegenüber, ein repräsentatives Porzellan-Kaffeegeschirr mit Blumenmuster. Durch diese Gegenüberstellung wird offensichtlich, dass die Funktion des Geschirrs im täglichen Leben und die damit verbundenen Emotionen komplett vom Produktionshintergrund entfremdet sind. Denn wer überlegt beim Essen schon unter welchen Arbeitsbedingungen der Teller hergestellt wurde?

Raum 3

"Block G (Gehrenseestrasse, Berlin)" & "One Thousand Times (Gehrenseestraße)", 2023

Sung Tieu widmet den dritten Ausstellungsraum der Kunsthalle Nürnberg der Architektur der Gehrenseestraße 1. Die Skulptur Block G (Gehrenseestrasse), 2023, repräsentiert den maßstabsgetreuen Grundriss des Gebäudes. Durch die Ausführung in kalt gewalztem, schwarzem Stahl und die im Verhältnis zum Grundriss überdimensionierte Stockwerkhöhe samt eingestreutem Sand, erinnert das Objekt an einen Monolith. Der Ausstellungstitel One Thousand Times nimmt auf die tausend Wohneinheiten dieser Siedlung Bezug und verdeutlicht, dass es sich um eine endlose Wiederholung von modular vorgefertigten, einheitlichen Räumen handelt. Er deutet gleichzeitig an, dass es sich trotz architektonischer Repetition und staatlicher Gleichschaltung um Familien und Menschen mit individuellen Wünschen und Hoffnungen handelt, ein lebendiger Mikrokosmos persönlicher Interaktionen und zugleich ein Spiegel der ideologischen wie staatlicher Bemühungen.

Das eigens für die Ausstellung entstandene Video ist ebenfalls als Erinnerungsstück an den Plattenbaukomplex zu verstehen. Der Sound entstand in Zusammenarbeit mit dem in Berlin lebenden Produzenten Alexis Chan. Zusammen mit der amateurhaften Heimkino-Ästhetik des Super-8-Films macht er unterschiedliche emotionale Empfindungen erfahrbar. Mit dem Abriss des Gebäudes, der für 2024 geplant ist, wird ein Teil der DDR-Geschichte unwiderruflich verschwinden.

Sung Tieu hält diese Geschichte mit ihrem Werk wach. Die Heimordnung House Rules, 2021, gestempelt mit floralen Gardinen, bezeugt, wie das alltägliche Leben von staatlicher Seite geregelt und eingeschränkt wurde.

Raum 4

"Room 208" & "Untitled", 2023

Als Gegenstück zu den modularen Hauswänden im ersten Ausstellungsraum versammelt Raum 4 die Möbel und Einrichtungsgegenstände des Zimmers, das die Künstlerin mit ihrer Mutter und einer Freundin der Familie in der Gehrenseestraße 1 bewohnte. Sung Tieu hat die gesamte Einrichtung zu Kuben abstrahiert: Schränke, Betten, Kochplatte, Esstisch, Stühle, Radio, Fernseher, Tassen, Blumenvase ... Die Kuben sind maßstabgetreu in der Wohnung angeordnet, exakt wie sie dort zwischen 1994 und 1997 aufgestellt waren. Die Grundrissform des Rechtecks und die Kuben erinnern im Kunstkontext an die Ästhetik der Minimal Art. Durch die geometrische, neutrale Form sollte in den 1960er-Jahren jeder Illusionismus vermieden und die Objekte als autonome Anschauungsformen wahrgenommen werden. Die Minimal Art formulierte einen Werkbegriff, der in einem Kubus allein dessen formale Logik erkennen wollte, einen geometrischen, absolut selbstreferenziellen Raumkörper. Dieses Konzept der Entpersonalisierung wurde von dem US-amerikanischen Künstler Donald Judd (1928 –1994) so weit getrieben, dass für ihn bereits ein Fingerabdruck auf seinem Werk dessen Zerstörung bedeutete.

Auch die Plattenbauten und ihre karge Architektur wurden im modernistischen Glauben an Fortschritt und Effizienz gebaut. Bei Tieu wird diese ideologische Basis ad absurdum geführt. Die in billigstem Buchenimitat gefertigten Würfel und ihre Anordnung sind Ausdruck einer beengten Lebenssituation. Die Installation involviert uns unmittelbar, da wir unseren Körper in ein Verhältnis zum Umraum setzen und ein physisches wie mentales Bewusstsein dafür entwickeln, wie Bewegungen durch räumliche Enge konditioniert werden. Menschen können keinen Platz einnehmen, wenn dieser faktisch nicht vorhanden ist und Begrenzung zu einem selbstdisziplinierenden Panzer wird. Diese Beobachtungen sind zentral, da Tieu mit Room 208, 2023, einen Ort existenzieller Symbolik thematisiert. Kaum ein Raum spiegelt so grundlegend unsere Art und Weise wieder, in der Welt zu sein, wie unsere Wohnung. Sie ist der Ort, der uns Menschen am meisten prägt, der ein Refugium der Selbstfindung und Intimität sein sollte und uns das Gefühl der Fremdheit und Verlorenheit nehmen sollte.

Raum 5

"One Thousand Times", 2020/2023 & "Song for VEB Stern-Radio Berlin", 2021 & "Returning With Something", 2022 & "Anti-Vandal Clock, (Paris)", 2022 u. a.

One Thousand Times, 2023: Mächtige Kreuze und weitgehend blickdichte Lochblechzäune erzeugen im folgenden Raum ein Gefühl von Ein- und Ausgrenzung. Die Kreuze, welche die Zäune im Raum verankern, beziehen sich auf architektonische Stützelemente, die Sung Tieu in Sao Paulo in einem Parkhaus entdeckte und hier in ihre Installation übersetzt. Vor dem thematischen Hintergrund der Ausstellung tritt das komplizierte Verhältnis beider Staaten zur christlichen Religion ins Bewusstsein.

Zwischen den Installationselementen präsentiert die Künstlerin verschiedene Gebrauchsgegenstände, die mit Hilfe von vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen in den Volkseigenen Betrieben hergestellt wurden. In der DDR wurden vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in rund 650 VEBs eingesetzt. Sie produzierten als billige Arbeitskräfte dringend benötigte Güter.

Globale Transaktionen von Arbeitskraft und Kapital sind zahlreich und dauern an. Ein Unterschied bestand bei diesen spezifischen Abkommen, die ebenso mit Ländern wie Nicaragua, Kuba, China oder Angola geschlossen wurden, in ihrer perfiden ideologischen Verbrämung: Die DDR sprach von „sozialistischer Bruderhilfe“ und von Menschen aus „Bruderstaaten“, die zur gegenseitigen Wirtschaftshilfe in das Land einreisten. Die Ambivalenz Waren herzustellen, in einer und für eine Gesellschaft, in welche die Arbeiter*innen nicht integriert wurden, an der sie aber wiederum durch den täglichen Gebrauch derselben Güter doch Anteil hatten, spiegelt sich im Symbol der gleichzeitig ein-  wie ausschließenden Trennwände wider.

Die Objekte lenken den Blick vom Gesamtraum auf die kleinen, alltäglichen wie funktionalen Dinge: ein Erste-Hilfe- Kasten, Kinderschuhe, Baumaschinen und goldene Sandalen ... Die globalen Systeme von Arbeitskraft und Kapital werden auf das Individuum übertragen.

Im großen Saal präsentiert die Künstlerin auch ihre Soundinstallation Song for VEB Stern-Radio Berlin, 2021, die aus neun Radiorekordern aus den 1980er-Jahren besteht, die die Künstlerin über Onlineplattformen zusammengetragen hat. Die originalen Rekorder verweisen auf das Kombinat VEB Stern-Radio Berlin, welches als Dachorganisation die Fabrikation von Rundfunkgeräten in der DDR zentral lenkte und zahlreiche vietnamesische Vertragsarbeiter*innen beschäftigte. Im Raum erklingt eine dissonante knapp 20-minütige Soundcollage, ebenfalls komponiert mit dem Soundproducer Alexis Chan. Der Sound bildet eine Art Echo, technoide wie elektronische Komponenten verbinden sich mit einem Rauschen, Summen und metallischen Scheppern, das an Produktions- und Fabrikgeräusche erinnert.
Die Radios verweisen als vielfach hergestellte Produktionseinheit auf das System der Planwirtschaft. Gleichzeitig sind sie Quelle für Musik und Information und damit für individuelle Erinnerungen.

Im gleichen Raum ist ein Standard-Arbeitsvertrag (Work Contract, 2021) für vietnamesische Vertragsarbeiter*innen ausgestellt, der die Frage nach Rechten und Pflichten der Arbeitskräfte aufwirft. Außerdem findet sich hier die Exportliste (Export Restriction List, 2021), die reguliert, was die Vertragsarbeiter*innen aus der DDR ausführen durften, sowie das 1980 getroffene Abkommen (Recruitment Agreement, 2021) zwischen der DDR und der Sozialistischen Republik Vietnam.

Über dem Zugang zu Raum 4 ist eine große digitale Zeitanzeige zu sehen, Anti-Vandal Clock, (Paris), 2022. Ein weiteres Exemplar befindet sich im Raum 7 über dem Eingang. Solche Uhren, die praktisch unzerstörbar sind, finden sich oft in öffentlichen Gebäuden oder auf öffentlichen Plätzen. Sie zeigen uns nicht nur die Zeit an, sondern üben damit auch Kontrolle über unser tägliches Leben und unseren Tagesablauf aus. Gemäß dem Motto "Zeit ist Geld" unterwerfen wir und in unserem Alltag allzu leicht ihrem Diktat.

Raum 6

"Untitled (One Thousand Times)", 2023 & "Inside The Blocks", 2019 & "Recruitment Agreement", 2021

Die beiden Hocker aus Edelstahl Untitled (One Thousand Times), 2021,  erinnern mit ihrer kühlen Ästhetik an Ausstattungsgegenstände von Wartezimmern in Einwanderungsbehörden, Einwohnermeldestellen oder auch modernen Strafvollzugsanstalten.

Die Zeitung Inside the Blocks umfasst einen autofiktiven Bericht über den Alltag in der Gehrenseestraße, geschrieben aus der Perspektive eines 7-jährigen Kindes. Der Leserinnenbrief wurde von der Künstlerin als Erwiderung auf einen 1995 in der New York Times erschienenen Zeitungsartikel zur Situation vietnamesischer Vertragsarbeiter*innen im Nachwende-Berlin verfasst. Sung Tieu schreibt in diesem Text: „In meinem kurzen Leben habe ich hauptsächlich das gesehen, was mir direkt vor Augen stand. Nicht die großen Machtkämpfe zwischen Erwachsenen in ihren Büros in Washington, Hanoi, London und dem ehemaligen Ostberlin.“

Raum 7

"Frequency Receiver", 2022 & "Determinations", 2021

Neben einem vom VEB Funkwerk Köpenick hergestellten Kurzwellen-Verkehrsempfänger, den Sung Tieu als ein weiteres Readymade in ihre Ausstellung integriert, präsentiert die Künstlerin in diesem Raum die 9-teilige Arbeit Determinations, 2021, die die „Festlegungen zur Ausarbeitung von Konzeptionen zur Ablösung der in Betrieben der DDR beschäftigten ausländischen Werktätigen“ reguliert. Auch hier handelt es sich um die originalen Dokumente, die Sung Tieu im Bundesarchiv abfotografiert und im Anschluss transkribiert hat. Die einzelnen Blätter sind erneut mit einem Zaun gestempelt, einer universell verständlichen Bildmetapher für Ausgrenzung und Kontrolle.

Raum 8

"Private Affairs", 2023 & "Combi Vision", 2021 & "Telephone Alpha", 2023 & "Erika", 2022

Die neue Installation Private Affairs I-III, 2023, ist eine Fortsetzung von Sung Tieus Recherchen zur Überwachung und Verfolgung der vietnamesischen Bevölkerung in der ehemaligen DDR durch das Ministerium für Staatssicherheit. Oft gerieten vietnamesische Vertragsarbeiter*innen in den Radar der Stasi, wenn sie unerwünschte Kontakte zu DDR-Bürger*innen pflegten, sich Beziehungen oder gar ein Heiratswunsch ergaben. Denn eine Integration der Menschen war nie vorgesehen; die Möglichkeit, deutsche Sprachkenntnisse zu erlangen, wurde zunehmend eingeschränkt; ihr Aufenthaltsrecht war stets befristet.
Die Künstlerin sammelte sowohl Überwachungsberichte, die alltägliche Details aus deren Leben beschreiben, als auch Gegenstände, die mit Hilfe der Arbeiter*innen in den VEBs hergestellt wurden. Sie beschreiben die Kollision von Privat- und Arbeitsleben, die unsere alltäglichen Realitäten durchdringt und stört.

Die Künstlerin platziert einen Fernseher, ein Telefon, eine Schreibmaschine und ein Radio im Ausstellungsraum. Ob es sich dabei um Geräte, hergestellt  zur systematischen Aufzeichnung und Übertragung oder nur um Haushaltsgegenstände handelt, bleibt offen. Die Dimension der kabinetthaften Ausstellungsräume erinnert vielleicht an ein häusliches Umfeld, doch ein Rauschen durchdringt den Raum – ein knisterndes Geräusch, das ein abgehörtes Gespräch oder eine geheime Aufnahme oftmals begleitet.