Einführung

Die internationale Gruppenausstellung Delikatessen. Zwischen Kunst und Küche wirft einen Blick in die Küchen der Kunstwelt. Die Parallelen zwischen Kunst und Kochen sind ebenso offensichtlich wie vielfältig: Beides hat mit Sinnlichkeit, Kreativität und bewusster Komposition zu tun. Die Ausstellung präsentiert 23 künstlerische Positionen, die sich mit erlesenen Zutaten, ausgefeilten Rezepten und genussvollen Erlebnissen befassen und dabei die Grenze zwischen Kunst und Küche verschwimmen lassen. 

Ursprünglich diente Essen vor allem dazu, den Körper mit allen benötigen Nährstoffen zu versorgen, um überleben zu können. Im Lauf vieler Jahrhunderte wurden Speisen immer vielfältiger und jede Gesellschaft entwickelte ihre eigene Esskultur. Essen ist Teil unserer kulturellen Identität, formt und festigt Gemeinschaften und ist seit jeher auch Inspirationsquelle für kreatives Schaffen. Denn die Tätigkeit des Kochens ist weit mehr als nur die Zubereitung von Nahrung. Für den österreichischen Filmemacher Peter Kubelka ist Kochen sogar die älteste Kunst der Menschheit: „Das Kochen ist nicht nur ein bildender Prozess wie andere Künste, sondern beides: Unmittelbares Eingreifen in die Natur und künstlerisch bildender Prozess." 

Die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema „Essen“ reicht weit in die Kunstgeschichte zurück, wie antike Wandmalereien mit Stillleben aus Ägypten oder Pompeji belegen. Im 16. Jahrhundert entwickelte sich das Stillleben mit Früchten und anderen Lebensmitteln zu einem eigenständigen Genre, und Darstellungen des gemeinsamen Essens sind ein in der Kunstgeschichte immer wiederkehrendes Motiv. Jedoch erst im 20. Jahrhundert kam es mit den italienischen Futuristen in der bildenden Kunst zu dem Einsatz von realen Lebensmitteln. Mit ihrer selbstbetriebenen „Taverne zum Heiligen Gaumen“ führten sie 1931 eine neue Form der künstlerischen Praxis in die bildende Kunst ein. Ihr erklärtes Ziel war, dass alle Personen außer guten Speisen auch die „Sensation“ erleben sollten, „Kunstwerke zu essen“, wobei das futuristische Kunstmenü für jeden bezahlbar bleiben sollte. In der Folge beziehen Künstler wie Daniel Spoerri, Allen Ruppersberg oder Gordon Matta-Clark seit den späten 1960er-Jahren das Restaurant als einen Ort der Begegnung und Kommunikation, der nicht nur körperliche, sondern auch geistige Nahrung anbietet, immer wieder in ihre künstlerischen Konzepte mit ein. Darüber hinaus wird die Ver- und Bearbeitung von Nahrungsmitteln für Künstler, wie z. B. Joseph Beuys, Dieter Roth oder Daniel Spoerri, vermehrt zum Bestandteil ihrer künstlerischen Arbeit.

In unserer Gesellschaft gewinnt das Thema Essen zusehends an Bedeutung. Allgemein wächst das Bewusstsein für die Bedeutung einer gesunden Ernährung, das Interesse an der Herkunft der Lebensmittel steigt und die Anzahl der Personen, die sich regional, biologisch, vegetarisch oder vegan ernähren, wird immer größer. Tagtäglich werden in den sozialen Medien unzählige Bilder von kreativ, teilweise kunstvoll hergerichteten Speisen gepostet, und kaum ein Lifestyle-Magazin kommt ohne eine Koch- bzw. Rezeptrubrik aus. 

Vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklung widmet sich die Ausstellung Delikatessen. Zwischen Kunst und Küche den vielfältigen Schnittstellen zwischen Kunst und Küche. Das Spektrum der künstlerischen Auseinandersetzung ist vielfältig: Gesellschaftskritische und politische Ansätze stehen neben humorvollen und verspielten Herangehensweisen. 

Präsentiert werden Werke von 25 internationalen Künstlerinnen und Künstlern seit den 1960er-Jahren bis heute. Die Bandbreite der verwendeten Medien reicht von Gemälden, Zeichnungen und Collagen über Fotografien, Videoarbeiten und Performance bis zu Objekten und ortsbezogenen Installationen, die speziell für die Ausstellung in der Kunsthalle Nürnberg entwickelt werden. 

Sonja Alhäuser

Eine barock anmutende männliche Figur, umgeben von kleinen Putti und eingezwängt in einen transparenten Behälter, stößt an die Glasscheiben ihrer engen Behausung und scheint aus ihr ausbrechen zu wollen. Die Kühlvitrine hält die aus Margarine hergestellte Figur gefangen, bietet ihr zugleich aber auch lebenserhaltenden Schutz, da sie in ungekühltem Zustand zerfließen würde. So stehen sich Sinnlichkeit und Lebenslust einerseits und das Wissen um die eigene Vergänglichkeit andererseits gegenüber. 

Sonja Alhäuser

Bekannt wurde Sonja Alhäuser mit ihren Zeichnungen, die wie Rezepte wirken, aber eigentlich Versuchsanordnungen abbilden. Ihre Zeichnungen sind weniger erzählerisch als vielmehr ablauforientiert, was sie häufig mit Pfeilen markiert. Meist sind parallele Handlungen miteinander verwoben, sodass die Zeichnungen in verschiedene Richtungen lesbar sind. Oftmals belässt sie es nicht bei der Darstellung des Herstellungsprozesses, sondern beschreibt den Weg der Substanzen in den Menschen hinein und wieder hinaus. 

Mit ihren Arbeiten bewegt sich Sonja Alhäuser in der Welt des Kulinarischen. Ihre detailreichen Rezeptzeichnungen, Skulpturen und Installationen aus ephemeren Materialien wie Butter, Schokolade oder Marzipan thematisieren Sinnlichkeit, Verführung und barocke Opulenz, aber auch das Festhaltenwollen von Momenten der Fülle und Erfüllung. Die Welt des Essens ist für die Künstlerin immer auch mit existenziellen Fragen verbunden: die Endlichkeit alles Materiellen, der ewige Kreislauf des Lebens. Die Vergänglichkeit ihrer Arbeiten, erklärte Sonja Alhäuser in einem Interview, sehe sie „als Zeitraffer für unsere eigene Existenz. Ganz im Sinne des Barocks gilt es, das Lebendige und Frische zu feiern – aber eben mit dem Wissen der Endlichkeit allen Lebens.“

Martin Parr

Als Chronist des modernen Lebens in der englischen Provinz ist Martin Parr bekannt. Seine unkonventionellen und oft humorvollen Beobachtungen halten der Gesellschaft einen Spiegel vor und zeichnen sich durch einen hohen Wiedererkennungswert aus. Anthropologisch und gleichzeitig realistisch erforscht Parr Sujets wie verschiedene Gesellschaftsklassen, die Globalisierung und unser Konsumverhalten. 

„Solange es nicht wehtut, solange keine Verletzlichkeit spürbar ist, entstehen keine guten Fotografien“, äußerte Parr einmal. Fotografie studierte Martin Parr an der Manchester Polytechnic, 1994 wurde er Mitglied der renommierten Agentur Magnum Photos. Seine frühen Schwarz-Weiß-Fotografien tauchten Menschen und Landschaften noch in ein nostalgisches Licht. Mit dem Wechsel zur Farbfotografie in den 1980er-Jahren gewann sein Ausdruck an Schärfe und Unmittelbarkeit. Heute konzentriert sich Parr auf Gegenstände und prägnante Details von Personen. Dabei zeigt er die Kuriositäten und die Exzentrik des täglichen Lebens in auffälligen, gesättigten Farbtönen, oft verstärkt durch den Einsatz von Tageslichtblitzen. Seine Arbeiten reichen von satirischen Darstellungen des Tourismus bis hin zu Szenen auf Sportveranstaltungen oder Lebensmitteln in ihren schillerndsten Farben – stets mit Fokus auf das Alltägliche. 

Die Sprache der kommerziellen Fotografie, mit ihrer grellen Beleuchtung und den intensiven Farben überführte er in einen okumentarischen Kontext. Diese innovative Herangehensweise und seine tiefe Faszination für die Welt haben ihm breite Anerkennung eingebracht. Parr gilt als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten des Mediums und bleibt seiner kompromisslosen Ehrlichkeit und Intuition seit Jahrzehnten treu.

Contrastissimo

Ohne die Direktion der Thalys Zuggesellschaft zu involvieren, inszenierte Contrastissmo zwischen dem 27. Januar und dem 1. Februar 2019 dank der großzügigen Unterstützung der Mitarbeiter*innen im Bordrestaurant eine kulinarische Intervention auf der Zugstrecke von Brüssel nach Paris. Unerwartete Speisen – teilweise humorvoll arrangiert wie beispielsweise ein Zitronen-Martini nebst ganzem Brokkoli – wurden vom Thalys-Personal serviert und sorgten im stilvollen Ambiente des Hochgeschwindigkeitszugs für einen Hauch Exzentrik. 

Das Verkehrsmittel der „Kosmopolit*innen“ bewegte sich dabei zwischen Brüssel, der „Hauptstadt der Europäischen Union“ und Paris, der „Stadt der Liebe“. Seit 1996 ist der Thalys (jetzt Eurostar) mit 300 km/h ein beliebtes Verkehrs- und Reisemittel mit gewissen Vorzügen. Anfang des Jahres 2019 wurden diese Annehmlichkeiten, wie z. B. Internetanschluss und multilinguales Personal, durch ein kulturelles Angebot erweitert: Einige Reisende an Bord des Thalys erlebten mit Concertissimo Annullato (Konzert abgesagt) ein Ausstellungsprojekt, das ironisch die immer gleiche Pendelbewegung des Thalys Zugs beim gesellschaftlichen Streben „nach oben“ kommentierte.
Wie die anderen Arbeiten dieser Serie lotet das Gemeinschaftsprojekt von Rachida Ait-Ali und Filip Gilissen die Grenzen zwischen künstlerischer Autor*innenschaft, kulturellem Kapital, Anspruch und Zugänglichkeit aus. Die an der fahrenden Ausstellung teilnehmenden
Künstler*innen waren eingeladen, das Potenzial von Gastronomie unter anonymen Bedingungen zu erkunden. 

Jorgen Leth

Eine so einfache wie strenge Bildkomposition empfängt die Betrachtenden: Graue Wand und braune Tischplatte, zentral im Bild der schmächtige Andy Warhol (1928 – 1987), seines Zeichens einer der einflussreichsten amerikanischen Künstler des 20. Jahrhunderts. Vor ihm steht eine Papiertüte mit Burger-King-Logo sowie eine Flasche Ketchup. Niemand hat sich so nuanciert und gleichzeitig ambivalent mit der US-amerikanischen Konsumkultur befasst wie der New Yorker Pop-Art-Künstler, und die gezeigte Szene aus dem Film 66 Scenes from America des dänischen Filmemachers Jørgen Leth bildet eindrücklich Warhols Spiel zwischen Überhöhung und Banalität ab. 

Warhol, der stets Ikonen schafft, oder existierende Ikonen noch ikonischer macht – man denke nur an seine Marylin-Monroe-Porträts – isst einen Hamburger und vollzieht damit einen vollkommen trivialen Akt. Die Szene ist ein One-Take, einen zweiten Versuch gibt es nicht und weder Schnitte noch akustische Untermalung oder sonstige beschönigende Mittel verschleiern zum Beispiel, wie der berühmte Künstler dabei mit dem Ketchup kämpft, der sich zunächst weigert, seine Flasche zu verlassen. Zugleich vollzieht er den Verzehr seines Hamburgers mit enormer Sorgfalt und Grazie. Beim Entschachteln des Fast Foods, dem Ringen mit der Ketchupflasche, selbst beim Kauen und Schlucken strahlt der blasse, stets etwas verschüchtert daherkommende Andy Warhol eine beinahe märtyrerhafte Tragik aus. Nachdem der Burger vertilgt und die Verpackungsreste wieder in ihrer Tüte verstaut sind, folgt nach 45 Sekunden der Stille ein einziger lakonischer Satz: „My name is Andy Warhol, and I just finished eating a hamburger“.

Candida Höfer

Wie ein Fenster, das auf einen fremden Planeten blickt, mutet die großformatige Fotografie von Candida Höfer an: Die in Köln als Tochter der Solotänzerin Elfriede Scheurer und des Journalisten Werner Höfer aufgewachsene Fotografin studiert ab 1976 an der Kunstakademie Düsseldorf bei Bernd Becher.

In ihrer Fotoserie zur legendären Kantine des inzwischen historischen SPIEGEL-Verlagsgebäudes an der Hamburger Brandstwiete löst sie sich nur teilweise von den Prinzipien ihres stilprägenden Lehrers: Die Räume bleiben wie bei den Becher-Fotografien menschenleer und der Blick dokumentarisch-sachlich. Durch die experimentellere Komposition des Bildausschnitts, die dramatischen Perspektiven und die kräftige Farbigkeit überschreitet die international renommierte Künstlerin aber in einigen der Fotografien diesen klassischen Ansatz. In der vorliegenden Arbeit trägt das zur gefühlten Fremdartigkeit des von Verner Panton (1926 – 1998) konzipierten Raums bei. 

Der dänische Designer und Architekt, der zu den einflussreichsten Gestaltern des 20. Jahrhunderts gehört, vermengt 1969 in der Spiegelkantine Einflüsse der Pop-Art – grelle Farbkontraste, kombiniert mit geometrischen Grundmustern – mit seinem verspielten, auf Kugelformen basierenden Möbeldesign. Durch von der Decke hängende, orangerote Pyramiden, in Schwärmen gruppierte Deckenlampen und plastisch gerasterte Kunststoffwände entsteht ein immersiver Raum, der wie eine zeitgenössische Anlehnung an den dadaistischen Merzbau von Kurt Schwitters erscheint. Ein Teil der denkmalgeschützten Kantine zog 2011 in den Neubau an der Ericusspitze in der Hamburger Hafencity um, der Großteil ist seit 2012 im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg ausgestellt.

Piero Manzoni

Die erlesene hölzerne Schatulle ist mit Baumwolle ausgelegt, in ihrer Mitte liegt, wie ein Schmuckstück, ein Hühnerei, vorne mit einem schwarzen Daumenabdruck versehen. Die Markierung gehört zu einem der radikalsten und skandalträchtigsten Kunstschaffenden des 20. Jahrhunderts, dem italienischen Performance- und Konzeptkünstler Piero Manzoni

Graf Manzoni von Chiosca und Poggiolo, wie er mit vollem Namen heißt, feiert am 21. Juli 1960 in Mailand sein ganz eigenes, säkulares Abendmahl: In der exakt 70 Minuten – der üblichen Dauer einer katholischen Messe – andauernden Performance Consumazione dell’arte Dinamica del pubblico Divorare l’arte weiht Manzoni mehrere Eier mit seinem Fingerabdruck, um sie anschließend zu verspeisen. Danach lädt er die Umstehenden ein, es ihm gleich zu tun. 

Mit seinen Hühnereiern geht Manzoni weit über Duchamps Bestimmung der Ready Mades hinaus, indem er mit diesen einen anderen Diskurs über das Sakrale eröffnet: Nämlich den Übergang vom heiligen Körper zur Heiligkeit des Körperlichen. Auch in seiner Arbeit Künstlerscheiße (1961) thematisierte Manzoni die „soziale Vergottung“, in der das Erbe des Reliquienkults im Kult des Kunstgegenstandes sichtbar gemacht und dem Künstler eine irgendwie magische Kraft zugeschrieben wurde. 

Nach Mazonis Vorstellung liegt die Fähigkeit des Künstlers letztlich darin, auch das Alltägliche in die „heiligen Sphären“ der Kunst zu überführen und so die Vorstellung zu erweitern, was die Gesellschaft als künstlerisch anerkennt. Eine „Authentifizierung“ erfolgte durch seinen Fingerabdruck oder durch die Versiegelung seiner Fäkalien in einer Blechdose, die zu ihrem exakten Goldwert verkauft wurde.

Susan Pietzsch

Veganismus, Food-Porn, Öko-Boom – in unserer Gesellschaft ist das Essen mehr denn je in das Zentrum des allgemeinen Interesses gerückt. Der Ernährungsstil ist zu einem Mittel der Selbstdarstellung geworden, wie es bislang eher die Mode oder bestimmte Musikvorlieben waren. In den sozialen Medien wird täglich eine Flut von Essensfotos gepostet. Die fotografierten Speisen lassen sich jeweils mit einem Lebensstil oder einer Lebensphilosophie verbinden und dienen damit der (digitalen) Selbstinszenierung. 

Seit den 1990er-Jahren befasst sich Susan Pietzsch im Kontext des Schmuckbegriffs mit Süßigkeiten und Wertvorstellungen. Sei es der aus Schokolinsen bestehende Smarties-Bikini (2003) oder die Chupa Chups (2004), kleine Kirschen aus Zucker mit einem durchschimmernden Kern aus Gold – immer geht es ihr um Sinnlichkeit, Verführung und Genuss. 

Mit diesen Themen befasst sich Susan Pietzsch auch in ihrer Arbeit Der Tisch als Bühne. Our food as the new fetish, die ein Ensemble aus farbigem Kanten zeigt. Kanten ist ein altes traditionelles Nahrungsmittel Japans, das aus Amakusa-Algen hergestellt und zu den unterschiedlichsten, meist süßen Gelees verarbeitet wird. Dieses klassische Verfahren hat Susan Pietzsch aufgegriffen und aus geometrischen Formen eine Landschaft gestaltet, die sie auf einem Tisch inszeniert und dann aus verschiedenen Perspektiven fotografiert hat. Die Detailaufnahmen zeigen einen ungewohnten Blickwinkel und verändern damit unsere Wahrnehmung: Die Textur des Gelees ist deutlich zu erkennen, die Formen erscheinen überlebensgroß. Aus der Distanz wirkt das Ensemble wiederum sehr architektonisch und erinnert an ein Stadtmodell. Die tatsächliche Größe der Objekte wird auf einmal erkennbar, der Zusammenhang sichtbar – der Tisch wird zur Bühne, auf der Essen als Lifestyle inszeniert ist.

Maik und Dirk Löbbert

Für das Münchener Literaturhaus eine Bank mit einer Laterne, für den Bonner Kunstverein einen rechteckigen Durchbruch in einer Wand, für eine Halde im Ruhrgebiet eine 30 m hohe Lichtsäule, die im Rhythmus der menschlichen Atmung pulsiert – obwohl sich diese Arbeiten von Maik und Dirk Löbbert stark voneinander unterscheiden, gibt es dennoch eine Gemeinsamkeit, die sie miteinander verbindet: ihr Ortsbezug. Ausgangspunkt für die beiden Künstler ist immer die intensive Auseinandersetzung mit dem jeweiligen Ausstellungsort und seinen Eigenheiten. Mit minimalen, oft kaum sichtbaren Eingriffen lenken sie die Aufmerksamkeit auf das, was vor Ort bereits existiert, aber meistens kaum Beachtung findet. 

Nürnberg befindet sich in Franken, einer Region im Norden Bayerns, wo vor rund 1.200 Jahren mit dem Weinbau begonnen wurde, der noch heute das Landschaftsbild großer Teile Unterfrankens sowie mancher Regionen in Mittel- und Oberfranken prägt. Weinfeste und Traditionen wie die der Weinkönigin und der Weinprinzessinnen werden hier gelebt. Untrennbar mit dem Frankenwein verbunden ist der sogenannte Bocksbeutel: eine bauchig runde Weinflasche. 

Diese Traditionen aufgreifend, haben Maik und Dirk Löbbert für die Kunsthalle Nürnberg eine Arbeit entwickelt, für die sie Rotwein eines Nürnberger Winzers verwendet haben. Das Rechteck, das in den Ausstellungsräumen auf einer der Wände schwebt, wurde von den beiden Brüdern mit dem Nürnberger Rotwein direkt auf die Wand gemalt. Die Form greift die geometrischen Strukturen der Architektur, die Proportionen der Wand und das Raster des Bodens auf, ist aber leicht aus der Symmetrie gerückt und bringt damit den gesamten Raum zum Klingen.

Sam Taylor-Johnson

Das 1-Kanal-Zeitraffervideo mit einer Länge von 3 Minuten und 44 Sekunden ist mindestens irritierend: Man sieht das Standbild eines prallen Stilllebens aus Obst, das klassisch auf einer geflochtenen Platte arrangiert ist. Einzig ein in der unteren rechten Ecke liegender Kugelschreiber verrät, dass es sich bei dem Film um eine zeitgenössische Arbeit handelt. Anfangs ist die Veränderung im Bild trotz des Zeitraffers kaum sichtbar, nur das Licht und die Farben ändern sich subtil. Bis irgendwann ein sanfter blauer Flaum auf den Früchten erscheint, wie frisch gefallener Schnee auf einer Gebirgslandschaft. Er wächst und überzieht die Äpfel, bis sie ganz unter dem Myzel des Schimmels verborgen sind. Nun schrumpft das Gebilde, man scheint zu spüren, wie das Obst seine strukturelle Kraft verliert. Am Ende liegt ein weicher Schimmelhügel auf dem Tisch, nur der Kugelschreiber aus Kunststoff bleibt unverändert. 

Es ist schwer, die Poesie der Installation nicht zu realisieren: Die britische Filmemacherin Sam Taylor-Johnson, deren Name in letzter Zeit auch in Verbindung mit aufsehenerregenden Filmbiografien wie der von Amy Winehouse genannt wird, schuf mit ihrem Kurzfilm Still Life im Jahr 2001 ein allgemeingültiges Symbol für Leben und Tod, das erstaunliche kunsthistorische Analogien eröffnet. Zeit und Oberfläche, das ist einer der Themenkomplexe der altniederländischen Feinmaler*innen des Barocks. Jene komponieren Blumenarrangements in Öl, aus Pflanzen, die gar nicht gleichzeitig blühen, oder sie erinnern die Betrachtenden mit welken Blüten und fleckigen Früchten an die eigene Endlichkeit. Man kann spekulieren, dass ihnen der Film gefallen hätte.

Tobias Hantmann

Der Prozess der Bildfindung, das Verhältnis von Motiv und Motivträger, die Beziehung zwischen dem Bild und der Wirklichkeit außerhalb des Bildes – das sind zentrale Themen, mit denen sich Tobias Hantmann in seiner Arbeit auseinandersetzt. Alle Selbstverständlichkeiten
und Konventionen in Bezug auf Kunst infrage stellend, findet er meist beim Betrachten seiner alltäglichen Umgebung zu Bildern und Ideen. In vielen seiner Werke lässt sich eine Faszination für Oberflächen und deren materielle Beschaffenheit erkennen. 

So bildeten den Ausgangspunkt für seine Serie Sets (2009) jene eigentümlichen Spiegelungen auf den geschliffenen Unterseiten glänzender Kochtöpfe, die er weniger als physikalische Erscheinung, sondern tatsächlich als Bild wahrnimmt. „Wie soll ich sagen, nächtliche Stunden im Atelier und dann stehen da Töpfe rum, die einfach zur Küche gehören, die eben auch im Atelier ist“, erklärte er in einem Interview, „(…) ich male jetzt nicht den Topf, sondern ich bemale den Topf (…).“ 

Zunächst grundiert er die metallenen Flächen der Topfböden mit mehreren Schichten Acrylfarbe, um dann mit Ölfarbe malerisch eine illusionistische Darstellung eben jener Spiegelung anzubringen, die vorher dort zu sehen war. Der Topf wird damit zum Bildträger. Auf seinem Boden befindet sich nun ein Gemälde, das auf den ersten Blick nicht unbedingt als solches zu erkennen ist. Die Wirkung ist so täuschend echt, dass zwischen Bild und Realität zunächst kaum zu unterscheiden ist. Erst beim eingehenden Betrachten wird deutlich, dass sich die Lichtreflexe beim Umschreiten nicht verändern, sie malerisch zum Stillstand gebracht wurden. Der Grad der Illusion und die Form der Interpretation des Phänomens der Spiegelung erschließen sich erst nach und nach.

Isabelle Enders

Die Werke von Isabelle Enders hinterfragen vertraute Seh- und Nutzungsgewohnheiten. Ihre Pfeffermühlen befreien sich von ihrer funktionsgebundenen Logik und werden zu hybriden Objekten, die die Grenzverläufe zwischen Gebrauchsgegenstand und autonomem Kunstwerk thematisieren. Für die Ausstellung hat die Künstlerin eine ortsspezifische Installation konzipiert, die atmosphärisch zwischen Gewächshaus, Kathedrale und Jahrmarkt mäandert. In eine metallene Rahmenkonstruktion wurden gegossene und mit Farbpigmenten angereicherte Zuckerscheiben eingefügt, die in ihren Proportionen und in ihrer Oberflächenstruktur auf die Oberlichter der Kunsthalle Nürnberg verweisen. Die Installation verleiht dem Ausstellungsraum eine alternative Struktur, verändert Laufwege und ermöglicht neue Perspektiven. 

Konzeptueller Ausgangspunkt ist auch bei Scheiben ein alltägliches Nahrungsmittel: Zucker. Neben der ästhetischen Dimension des kristallinen Lebensmittels, das geschmolzen und in Scheiben gegossen eine malerische Schönheit entwickelt, bezieht sich Isabelle Enders auch auf die Mär von Hänsel und Gretel. Im Fokus steht für die Künstlerin jedoch nicht das berühmte Märchen und sein Lebkuchenhaus mit Fenstern aus Zucker, sondern eine historische Begebenheit, die der Grimm’schen Erzählung zugrunde liegt und Bezüge zur Nürnberger Lebkuchentradition besitzt. 

Ergänzt wird die Rauminstallation durch an den Wänden installierte Metallbleche, die an Wurstscheiben erinnern. In den Strukturen dieser Objekte glauben wir, wie bei einem Rorschachtest, Wolkenhimmel oder Kaffeesatz, Physiognomien und andere Motive zu entdecken. 

Dieter Froelich

Hört auf zu kochen – welch ein Diktum! Im roten Stempeldruck auf ein Küchenhandtuch gedruckt und wie ein traditionelles Tafelbild auf Keilrahmen gespannt, erinnert es wohl gerade ältere Betrachter*innen an Jörg Immendorfs Bild Hört auf zu malen von 1966. Beide Forderungen sind ähnlich in ihrer Absurdität, denn bekanntlich endete damals weder die Geschichte der Malerei, noch war 2017 ein Ende der Zubereitung von Speisen in Sicht. 

Dieter Froelich, der als Student an der Frankfurter Städelschule in den 1980er-Jahren auch die mittlerweile legendären Kochseminare Peter Kubelkas besuchte, war als Plastiker über zwanzig Jahre mit seiner Kochkunstunternehmung Restauration a.a.O. [am angegebenen Ort] im Bereich Kochen als Kunstgattung tätig. Mit seiner mobilen Küche praktizierte er in Gastmahlen, Seminaren und Vorträgen eine „kulinarische Abrüstung“, wie er es formulierte. In zahlreichen Texten polemisierte er gegen „schaumschlagende Kreativköche mit ihrem sprachlich-kulinarischen Manierismus, der in alle Bereiche der Ernährung eindringt – von der Privatküche bis zur industriellen Nahrungsmittelproduktion.“ In einem dieser Texte aus dem Jahr 2018 begegnet uns dann auch seine Forderung wieder: „Der mediale Overkill in Form von Kochshows, Zeitschriften, Blogs, Kochbüchern und Festivals erinnert an das Märchen vom süßen Brei, der unablässig aus dem Töpfchen quillt, als wolle er die ganze Welt unter sich begraben. Da hilft nur die entsprechende Beschwörungsformel: ‚Hört auf zu kochen‘.“

Ben Heinrich & Lukas Pürmayr

In einer hochtechnologisierten Welt, die zunehmend von schädlichen Einflüssen durchdrungen ist, haben wir gelernt, mit diesen Bedrohungen umzugehen. Doch trotz unserer Anpassungsfähigkeit bleibt die Vorsicht vor dem Unbekannten bestehen. Ausgehend von der Untersuchung, dass wir alle von tödlichen Stoffen umgeben sind, die wir aber im Alltag oft ausblenden, ist es erstaunlich, dass einige
der gefährlichsten Gifte natürlichen Ursprungs sind. 

Die Performance Giftessen beleuchtet die paradoxe Beziehung zwischen der Natur und ihrer potenziellen Gefahr, indem sie tiefere Reflexionen über unsere Wahrnehmung von Giftstoffen anregt. Sechs Freund*innen versammelten sich in einem wilden Garten, dem Feldlaboratorium von Ben Heinrich, zur Zeit der Pandemie, die den Umgang mit unserer Umwelt neu definierte. Eine Tafel, festlich
dekoriert mit prächtigen Blumen, Moos und Kerzen, schuf eine konzentrierte Atmosphäre und wurde szenisch mit der Fotokamera von Lukas Pürmayr und Ben Heinrich eingefangen. 

Während der Performance wurden sieben Gänge zubereitet, aber nie verzehrt! Sie enthielten zahlreiche Giftpflanzen aus dem Garten,
darunter den hochgiftigen Eisenhut. Schon bei der Zubereitung waren Schutzmaßnahmen erforderlich, um den gefährlichen Pflanzensäften zu entgehen. Jeder Gang intensivierte die Geruchswahrnehmung und der Hunger der Teilnehmer*innen wurde größer. Die Sinne schärften sich, und die Ästhetik der giftigen Pflanzen und kunstvoll angerichteten Speisen trat in den Vordergrund. Diese Erfahrung schuf eine Resonanz zwischen dem Bekannten und der neuen, herausfordernden Realität des Nicht-Essens: Eine Einladung unsere Sinne und unsere Beziehung zur Natur und ihren Gefahren neu zu entdecken.

Claus Richter

Um Delikatessen dreht sich die gesamte Ausstellung der Kunsthalle Nürnberg, und wenn man hier auf das Werk des Bildhauers, Konzeptkünstlers und Dandyforschers Claus Richter blickt, könnte man meinen, es ginge dabei vorrangig um Lebkuchen. Die zwei stylishen, überdimensionierten Pfefferkuchenreliefs aber nur als das zu lesen, was sie darstellen, wäre eine fahrlässige Verkürzung der hochkomplexen Erzählungen, die den Arbeiten des Künstlers innewohnen. Hier geht es wohl um nichts weniger als eine Neubewertung der Grimm’schen Lebkuchenhexe: Come Here, so nennt er die Werkgruppe Die Waldhexe als It-Girl? So könnte man die Installation lesen. 

Mit seiner Variante des Märchenklassikers überdehnt Claus Richter die ursprüngliche Aussage weniger als man auf den ersten Blick denken mag: In der Tat muss den mit Brot und Wasser sozialisierten Kindern von ihren Eltern in den dunklen Wald outgesourct, jenes gefährliche Hexenhaus wie das leibhaftige Schlaraffenland erschienen sein und die Hexe wie eine gnädige Retterin. Damals wie heute sollte man derartige Verführungen mit Vorsicht genießen.

Dieter Roth

Der in Hannover geborene und in Basel gestorbene Kulturschaffende Dieter Roth hat in seinem aufregenden Leben wenige Genres der Kunst und Kultur nicht bedient. Nach seiner Ausreise aus dem nationalsozialistischen Deutschland siedelt der vielfach interessierte Künstler erst in die Schweiz um, später in die USA. Er entwirft Stoff-Designs, schreibt Konkrete Poesie, malt, bildhauert, gründet einen Buchverlag und gibt ausufernde Interviews, die er später veröffentlichen lässt. Ein Projekt, das über seinen Tod hinausreicht, ist das Schimmelmuseum, das in der Ausstellung in sechs großformatigen Fotografien gezeigt wird. 

Dieter Roth gestaltet die umfassende Material- und Figurensammlung, eines seiner Hauptwerke, ab Anfang der 1990er-Jahre in einem ehemaligen Kutscherhaus an der Hamburger Außenalster, wo die verschiedenen Objekte bis 2004 treu ihrer Aufgabe nachkommen und schimmeln. Nach dem notwendigen Abbruch des in der Substanz stark geschädigten Gebäudes 2004 wandern viele der Objekte in die Sammlung des Dieter-Roth-Museums.  

Einen Eindruck liefert das Schokoladenobjekt Portrait of the artist as Vogelfutterbüste, das hier in einer Kopie von 2012 zu sehen ist. Der Denker Dieter Roth setzt sich seit den 1960er-Jahren bis zu seinem Tod mit der Ästhetik der Vergänglichkeit auseinander, die ihn auch zu abwegigen Materialien wie Schokolade oder anderen organischen Werkstoffen führt. Schimmel, der Angstgegner aller kochenden Leute, ist dabei das zentrale Element seines Werks.

Walid Raad

Als im Frühjahr 1975 offene Gefechte im Libanon ausbrechen, ist das der Beginn eines blutigen Bürgerkrieges, der das Land 15 Jahre lang verwüsten wird. Die Parteien sind mannigfaltig. Tiefe Konflikte durchziehen die teils christliche, teils muslimische Gesellschaft; Gruppierungen, etwa die radikal-islamistische Hisbolla, die palästinensische PLO, aber auch die Staaten Syrien und Israel, mischen im hitzigen Topf der kochenden Konflikte mit. Um die brodelnden Gemüter zu besänftigen, so das Gerücht, reist eine Frau als Chef Ramza – nicht zu verwechseln mit dem ebenfalls libanesischen und insbesondere im arabischen Raum beliebten Kochbuchautor Chef Ramzi – quer durchs Land und kocht für die kriegerischen Konfliktparteien traditionelle libanesische Delikatessen. Für einen besonders befriedenden Effekt reichert Chef Ramza ihre Gerichte mit allerlei halluzinogenen Substanzen an, von berauschenden Pilzen und Kräutern bis zu Kokain und LSD. 

Die Erzählung um die pazifistische Köchin mag frei erfunden sein – in der Tat arbeitet Walid Raad häufig mit derlei Flunkereien – doch liegt in dieser Unwahrheit womöglich eine Antwort, durch die es gelingt, dem Irrsinn der realen Geschichte auf Augenhöhe zu begegnen. In Zeiten von Fake News und Desinformation wirft Raads Arbeitsweise auch die Frage nach dem Unterschied von Fiktion und Lüge auf. Wo Fake News und Verschwörungstheorien bewusst der Irreführung dienen, kann eine gute Geschichte, selbst wenn sie frei erfunden ist, uns der Wahrheit sogar näherbringen.

Boris Becker

Um das Thema der scheinbar absoluten Unordnung in privaten, gewerblichen und öffentlichen Räumen geht es Boris Becker in seiner Serie Total Desaster. In Wohnungen, Werkstätten und Hinterhöfen hat er Lebens- und Arbeitsbereiche fotografiert, die nicht unbedingt den herkömmlichen Vorstellungen von Ordnung entsprechen. Seine Fotografien zeigen die Schönheit dieses vermeintlichen Durcheinanders, während sie zugleich Fragen über gesellschaftliche Ordnungsprinzipien aufwerfen. 

Die Küchen der beiden Arbeiten Grünwald und Küche sind mit ihren individuellen Formen des „Sich-Einrichtens“ über lange Zeit hinweg wie Organismen gewachsen. Diese verschachtelten und auf die jeweilige Person zugeschnittenen Anordnungen bilden Ordnungssysteme ab, die einzigartig sind und sich niemandem sonst erschließen. Somit lassen sich die Fotos auch wie „Porträts“ lesen, die über die Person, die sich ihr alltägliches Umfeld so gestaltet hat, facetten- und detailreich Auskunft geben. 

Boris Becker versteht sich selbst als „Bildfinder“. Seine Fotos sind großformatige und detailgenaue Stillleben von Objekten, Landschaften und Architekturen, wobei ihn weniger das Spektakuläre interessiert, als vielmehr das Alltägliche und Übersehene. Oftmals arbeitet er in Serien, aber nicht um so eine Typologie zu erstellen, sondern um das Wesentliche des Sujets zu erfassen und das Besondere des jeweiligen Motivs deutlich zu machen. In die vorgefundene Wirklichkeit greift er nicht retuschierend oder verändernd ein. Seine Arbeiten sind somit stets authentische und detailgenaue Abbilder der Realität.

Winfried Baumann

Die Vorstellung, der Mobilität unserer Welt mit einer kompakten Wohneinheit zu begegnen, die alle fundamentalen Bedürfnisse auf minimalem Raum erfüllt, gehört zu den grundlegenden Ideen der Moderne. So war es für das Denken der Bauhaus-Bewegung zentral, sich die Welt von ihren funktionalen Strukturen ausgehend zu erschließen. Welche Dinge braucht der Mensch wirklich, und wie müssen diese Objekte gestaltet sein, damit sie sich ganz in den Dienst des Menschen stellen? 

Seit 2001 entwickelt Winfried Baumann Wohnsysteme für Menschen ohne Obdach sowie für „urbane Nomaden“. Seine Wohncontainer, die er unter der Bezeichnung Instant Housing zusammenfasst, kreisen um Themen wie mobiles Leben, modernes Nomadentum, Armut und das Überleben des Einzelnen im Zeitalter globalisierter Ökonomie. 

Seine Entwürfe sind präzise Reflexionen menschlicher Bedürfnisse, Gewohnheiten und Sehnsüchte. Eine eindeutige Einordnung seiner Minimalbehausungen ist diffizil, da ihr Platz sowohl im Kunstkontext als auch auf der Straße ist. So fällt die Entscheidung schwer, was wir da sehen: Eine Skulptur? Eine soziale Plastik? Kunst im öffentlichen Raum? Einen Gebrauchsgegenstand, den wir über einen Versandkatalog bestellen können? 

Neben dem Wunsch nach einem schützenden Mikrokosmos gehören Hunger und Sättigung zu den stärksten Antriebsmomenten der menschlichen Existenz. Kochen und (gemeinsames) Essen dienen jedoch nicht nur der Stillung eines Grundbedürfnisses, sondern besitzen stets auch sinnlich-emotionale, soziale und kommunikative Aspekte. So erscheint es konsequent, dass in das Portfolio von Instant Housing auch die Kochstation Instant Cooking gehört: Funktional und mobil wie eine moderne Feldküche greifen auch bei ihrer Konzeption Kunst, Design und sozialer Aktivismus nahtlos ineinander.

Wolfgang Stehle

Ein Bierbauch zum Umschnallen, inklusive Einfülltrichter oben und Auslassventil unten: So einfach lässt sich Wolfgang Stehles Sozialprothese von 2002 vollumfänglich beschreiben. Das Werk, das auf den ersten Blick vielleicht banal und auch etwas albern anmuten mag, ist in Wirklichkeit eine Kritik an einem realen Grundproblem unserer Gesellschaft. Denn wer keinen Alkohol trinkt, ist auf gesellschaftlichen Veranstaltungen hierzulande eine echte Kuriosität und folglich regelmäßig mit allerhand ungläubigen Fragen konfrontiert: Ob man heute noch Auto fahren müsse, ob man denn auf diese Weise überhaupt Spaß haben könne, ob man nicht doch wenigstens ein Glas mittrinken wolle … Nein? Wieso? Liege da vielleicht gar ein Suchtproblem zugrunde? Oder sei man schlicht und einfach langweilig? 

Von drängenden Ermunterungen, über beleidigende Stigmata bis zu faszinierten Belobigungen – gerade so als beweise man damit die übermenschliche Selbstbeherrschung eines Shaolin-Mönchs – findet sich so mancher ungebetene Kommentar unter den Reaktionen. Da kann sich, wer nicht partizipieren möchte am Konsum der berauschenden Volksdroge, schnell sozial ausgegrenzt fühlen. Daher rührt auch Stehles Körperergänzung, die es ermöglicht, am feuchtfröhlichen Gemeinschaftsspaß trotzdem teilzunehmen, weil sie Bier, Wein und Spirituosen sammelt und bei Bedarf auf der Toilette wieder entleeren lässt. Der Mensch passt sich an, wenn nötig mithilfe einer Prothese. Was bei allem Humor in diesem Werk offensichtlich naheliegt, ist die relevante Frage, ob Alkohol nicht einen allzu großen, geradezu übergriffigen Stellenwert in unserem Zusammenleben genießt.

Heike Kati Barath

Die Deutschen lieben Nudeln: rund 10 Kilo Nudeln pro Kopf wurden im letzten Jahr verzehrt. Heike Kati Baraths Spaghettiesser und Spaghettiesserin gehören offensichtlich dazu. Mit aufgerissenen Augen und stumpfem Blick starren sie aus den großformatigen Malereien heraus. Die simplen Erscheinungen wirken zunächst hölzern, doch ihre Gestik und Mimik entfalten eine subtile Dynamik. Als würden sie die 3 × 2 Meter großen Leinwände sprengen, dehnt sich die Konfrontation der Szene am Esstisch auf die Betrachtenden aus, die sich auf Augenhöhe körperlich in der Kunsthalle Nürnberg positionieren müssen. Kaum ignorieren lässt sich dabei die Direktheit der Szene: Der Spaghettiesser, möglicherweise ein gieriger Bruder, der seine pubertierende Schwester mit seinem voreiligen Essensbeginn überrascht, wird mit ihrem wütenden Blick kommentiert. 

Heike Kati Baraths großformatige Porträts Heranwachsender offenbaren die Komplexität des menschlichen Daseins, indem sie ursprüngliche Instinkte (der Spaghettiesser) und anerzogene Vernunft (die Spaghettiesserin) verbinden. Sie lassen erahnen, welche (Geschlechter-)Rollen und Hierarchien die Protagonist*innen künftig einnehmen könnten. 

Heike Kati Barath, Professorin für Malerei an der Hochschule für Künste Bremen kombiniert die Klarheit des Realismus mit den Qualitäten der Farbfeldmalerei und Monochromie. Inmitten eines wolkigen Hintergrunds machen der kindliche Ausdruck der Gesichter und das hohe Identifikationspotenzial diese Gemälde so prägnant – Merkmale, mit denen Barath seit den späten 1990er-Jahren bekannt wurde und der zeitgenössischen figürlichen Malerei eine einzigartige Facette zeigte. Mit reduzierten Mitteln erzielt Barath eine starke emotionale Wirkung ihrer Figuren, die Empathie weckt und lange nachhallt.

Carsten Höller

Viel wurde geschrieben über die fortgesetzten Grenzverschiebungen der zeitgenössischen Kunst. Doch sollte man sich vor dem ausgestellten Werk des Konzeptkünstlers Carsten Höller die Frage stellen: „Sind wir womöglich zu weit gegangen?“ Die Wandarbeit Kinderkotze von 1992 simuliert nämlich exakt das, was ihr Titel verspricht: Eine unheilige Tinktur wurde mit einiger Ambition an die Museumswand geschleudert, ganz wie man es von jenen jungen Restaurantkritiker*innen erwarten würde, die in den Lokalen der Welt ebenso wie in den privaten Küchen der Eltern ihr hartes Urteil fällen. 

War Carsten Höller, selbst Restaurantbetreiber, die für viele Köche grausame Wahrheit hinter seiner Installation bewusst? Man kann es vermuten, denn die Materialien des kleinkindlichen Erbrochenen sind feinsinnig aus Tomatensoße und Buchstabennudeln komponiert. Installiert wurde die organische Malerei in diesem Fall nicht von Höller selbst, er gab lediglich Anleitung für einen stellvertretenden Auswurf, der fachkundig durch das Team der Kunsthalle Nürnberg realisiert wurde. Das scheint wie eine doppelte Provokation: Nahm Höller in der ersten Version des Werks noch selbst die Rolle des in die Ecke speienden Kindes ein, übergibt er diese nun an andere, und bleibt dadurch selbst geradezu unbefleckt. Denn Kinderkotze ist zweifelllos das radikalste Schicksal jeglicher Kochkunst.

Gordon Matta-Clark

Der 1972 gedrehte Dokumentarfilm FOOD zeigt das tägliche Treiben im gleichnamigen Restaurant, das Gordon Matta-Clark 1971 zusammen mit seiner Freundin, der Tänzerin und Fotografin Carol Goodden und den Künstlerinnen Suzanne Harris, Tina Girouard und Rachel Lew in dem New Yorker Stadtteil Soho gegründet hatte. In den Räumlichkeiten des Restaurants, die Gordon Matta-Clark gestaltet hatte, gab es eine offene Küche – zu jener Zeit eine Besonderheit. Die Intention war, den Vorgang des Kochens sowie die jeweiligen Köch*innen für die Gäste sichtbar zu machen. Die Köch*innen wechselten täglich und die Gäste aßen das, was an dem jeweiligen Tag angeboten wurde. Auf der Karte standen internationale wie regionale Gerichte, insbesondere auch vegetarische. Jeder, ob wohlhabend oder obdachlos, konnte dort essen. Das Essen war umsonst, die Gäste bezahlten nach ihren Möglichkeiten. 

Der von Gordon Matta-Clark gedrehte Film dokumentiert einen Tag im Leben des Restaurants. Die erste Rolle dieses Films, Reel A, beginnt mit den Aufnahmen vom Fulton Fish Market, wo nach dem Fang des Tages Ausschau gehalten wird, und endet damit, dass gezeigt wird, wie man sich im Restaurant an die Arbeit macht. Reel B zeigt Leute zur Mittagszeit. Reel C endet damit, dass ein Arbeiter von der Mad Brook Farm-Kommune aus Vermont vorbeikommt, um das Brot für den nächsten Tag zu backen. 

FOOD war nicht nur Restaurant, sondern auch sozialer Raum und fortlaufendes Kunstprojekt. Es wurde ein kreatives Umfeld geboten, in dem Künstler*innen als Gastköch*innen ihr Können bewiesen, Filme gedreht wurden, Tänzer*innen auftraten und Kunst diskutiert, erdacht und produziert wurde. Nach drei Jahren fand das FOOD-Projekt dann ein Ende. Trotz dieser kurzen Lebensdauer entwickelte sich das Restaurant zu einer bis heute legendären Institution

Thomas Feuerstein

Das Wort „Manna“ stammt aus dem Hebräischen und bedeutet so viel wie: „Was ist das?“ Die Frage liegt nahe in Anbetracht des grün leuchtenden Konglomerats blubbernder Röhren, umschlängelt von allerhand ominösen Schläuchen. Wie ein fremdartiger Alien-Apparat kommt die Manna Maschine III des österreichischen Konzeptkünstlers Thomas Feuerstein daher. 

In der Tat veröffentlichten 1976 zwei Briten einen Essay, in dem sie behaupteten, das biblische Manna, die göttliche Nahrungsquelle der Israelit*innen auf ihrer 40-jährigen Reise durch die Wüste, sei in Wahrheit eine durch Außerirdische gezüchtete radioaktive Algenkultur gewesen; aber der wissenschaftliche Gehalt dieser Theorie lässt sich in Zweifel ziehen. Auch steht zu hoffen, dass Feuersteins absonderliches Instrumentarium mit Radioaktivität wenig zu tun hat. Mit Wassergewächsen allerdings schon, in diesem Fall Einzellern der Gattung Chlorella. Die Mikroalgen, die in dem Photobioreaktor unter idealen Bedingungen gedeihen, verarbeitet der Künstler zu grünem Pigment für seine Malerei. 

Chlorella enthält außergewöhnlich viel des grünen Pflanzenfarbstoffes Chlorophyll und gilt als hochpotentes Nahrungsergänzungsmittel. Reich an Proteinen und Vitamin B12, sowie von entgiftendem Charakter soll die Mikroalge sein. Feuerstein lässt es sich außerdem nicht nehmen, aus den Resten der Pflanzenmasse einen wundersamen Trunk zu brauen. Der Name des Getränks Tono Bungay geht zurück auf den gleichnamigen Roman von H. G. Wells, in welchem ein hochstaplerischer Dorfapotheker eine angeblich alles heilende, in Wahrheit aber nutzlose Arznei vertreibt. Man kann also vermuten, dass sich in Feuersteins neongrüner Spirituose auch ein spitzfindiger Kommentar auf aktuelle Ernährungstrends und sogenannte Superfoods verbirgt.